Vor ein paar Tagen bin ich über Nacht von Wien nach Bregenz und über Nacht wieder zurück. Dazwischen habe ich eine Ausstellung von Antony Gormley angeschaut. Ein bisserl verrückt, denken Sie vielleicht, aber: ich bin Priester. Ohne eine gewisse Verrücktheit ist dieser Beruf heutzutage überhaupt nicht auszuüben. Wie gesagt, ich habe mir dort in Bregenz eine Ausstellung angeschaut. Antony Gormley ist Bildhauer. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die menschliche Figur. Dabei formt er keine menschlichen Gestalten. Er baut vielmehr Hüllen und Hülsen. Die Gestalten sind wie Schalen um Hohlräume. Da wird kein Bild des Menschen geschaffen. Es wird ein Raum frei gehalten, der von einem Menschen eingenommen werden kann. Der Betrachter muss in gewisser Weise in diese Gestalten einsteigen.
Nun gut. Ich bin wieder zurückgefahren. So ein Liegewagen bietet ideale Voraussetzungen, um sich einzukapseln, sich in die eigene Schale zu verkriechen. Er bietet aber auch ideale Voraussetzungen, an die Schale eines anderen zu klopfen, zu schauen, wer aus dem Hohlraum zum Vorschein kommt. So habe ich in den Morgenstunden ein Gespräch mit einem etwa 40-jährigen Mann begonnen. Er war aus Mazedonien, wie ich nach einigem Fragen von ihm erfahren habe. Er lebt mit seiner Familie in Wien und ist gern in dieser Stadt. Während seine Angehörigen in der Schweiz leben, ist er deswegen nach Wien gezogen. In seinem eigenen kleinen Betrieb arbeitet er hart. Mazedonier sind geradlinige und arbeitsame Menschen, habe ich von ihm erfahren. In die Schweiz ist er gefahren, um Knochenmark für seine erkrankte Schwester zu spenden. Das alles hat er erzählt, ohne viel Aufhebens zu machen.
Wir können Freiräume im Umgang miteinander schaffen. Freiräume, in denen sich die anderen zeigen können. Dabei gibt es die schönsten Überraschungen zu erleben. So hat sich meine Verrücktheit wirklich bezahlt gemacht.
* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien
