Wortgewalt und Poesie

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Die Italienierin Melania G. Mazzucco schrieb ein Psychodrama von hoher Sprachkunst.

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Die Italienierin Melania G. Mazzucco schrieb ein Psychodrama von hoher Sprachkunst.

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Leidenschaftliche, zerstörerische Liebe zwischen zwei Frauen? Feminismus im Geist der Zeit? So leicht läßt sich der Roman nicht abtun, den die Italienerin Melania G. Mazzucco mit knapp 30 Jahren geschrieben hat. Hier läuft ein beklemmendes Sozial- und Psychodrama von seltener Sprachkunst ab.

Eigentlich interessieren die Leute, die anfangs in Form der Beschreibung eines Fotos mit der kompletten Hochzeitsgesellschaft vorgestellt werden, nicht sehr. Im Laufe der Begebenheiten verblassen die Nebenfiguren. Norditalien in den Jahren 1905 bis etwa 1917. Hochzeit des Felice Argentero Graf von Breze mit Fräulein Norma Boncompagni, einem früh verwaisten Mädchen aus gutbürgerlichem Haus.

Zufällig gerät auf das personenreiche Hochzeitsbild Madlenin Belmondo, ein achtjähriges Bauernkind, das schon am nächsten Tag vom Großvater an den Landstreicher Peru verkauft wird, der es sofort vergewaltigt, zum Betteln abrichtet und an Männer verleiht - meist drüben, jenseits der französischen Grenze. Madlenin, später Medusa benannt, lernt auf der alleruntersten sozialen Ebene, sich zu behaupten, durchzuschlagen, durchzukämpfen, bis sie ganz zufällig als Dienstmädchen in den Haushalt des Grafen Felice gerät.

Normas Eheglück scheint beneidenswert zu sein. Sie kann den Kindern des Grafen aus erster Ehe eigene hinzufügen, allerdings mit der Einschränkung, daß die kleine Angelika schwer behindert zur Welt kommt und die Ärzte ratlos macht. Mit der Einschränkung auch, daß Felice einer politischen Karriere nachjagt, daß er meist in Rom lebt und Norma, die begabte Pianistin, nach und nach von ihrem Freundeskreis isoliert, sie aber dennoch vernachlässigt und mit der Zeit Brutalität und Herzlosigkeit erkennen läßt.

Medusa begleitet Norma auf einer lebensgefährlichen winterlichen Wallfahrt mit dem kranken Kind. Vielleicht die erste Stufe der Zuneigung, die sich zwischen den grundverschiedenen Frauen entwickelt, die auf ganz konträren Wegen in die Situation kommen, sich vernachlässigt, ja verstoßen zu fühlen. Aber auch einander Halt geben zu können. Die Leidenschaft, die sich geradezu explosiv entwickelt, wird natürlich von der Umgebung wahrgenommen und verurteilt. Doch die Gemeinsamkeit will sich auch ohne die Störungen von außen nicht restlos erfüllen und stabilisieren. Vielleicht erkennt das Mädchen aus der Gosse instinktiv, daß es gilt, den Tag zu genießen, da nichts dauert.

So verschwindet sie, als der Skandal zu groß ist, aus der Handlung. Norma aber, die allen Halt verloren zu haben glaubt, gebärdet sich wie wahnsinnig. Der Graf, von der Verwandtschaft alarmiert, wird zum rasenden Othello. Leidet nicht an schlechtem Gewissen, sondern an Selbstmitleid. Norma überlebt eher zufällig seine Mißhandlungen, scheint aber fortan geistig umnachtet zu sein.

Was nun noch folgt, ist eine genaue, scheinbar authentische wissenschaftliche Analyse von medizinischen und juristischen Experten, eine Spurensuche nach dem Schicksal aller Beteiligten. Aber das ist nur noch Nachspiel. Ihre Höchstleistungen erbringt die Autorin bei der Darstellung seelischer Vorgänge, leidenschaftlicher bis hysterischer Aufwallungen, die mit unerschöpflicher Wortgewalt und subtiler Poesie zum spannungsvollsten Teil des Romans werden - jedenfalls in der imponierenden Übersetzung von Doris Winkler.

So bemüht die Autorin auch eine gewisse analytische Distanz zu ihren Figuren zu wahren versucht, in den großen Szenen voll innerer Dramatik nimmt man unwiderstehlich Anteil. Wie der Verlag Piper mitteilt, ist der nächste Roman der jungen Autorin auf Italienisch bereits erschienen. Auf die deutsche Übersetzung darf man gespannt sein.

Der Kuß der Medusa. Roman von Melania G. Mazzucco Übersetzung: Dora Winkler. Piper Verlag, München 1999. 456 Seiten, geb., öS 291,-/e 21,14

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