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Für eine praktische Politik

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STAATSKUNST UND KRIEGSHANDWERK. Band II. Von Gerhard Ritter. R.-Oi- dcnbourg-Verlag, München. 393 Seiten. Preis 30 DM.

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STAATSKUNST UND KRIEGSHANDWERK. Band II. Von Gerhard Ritter. R.-Oi- dcnbourg-Verlag, München. 393 Seiten. Preis 30 DM.

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Seinem ersten Band (2. Auflage 1958) des großangelegten Werkes „Staatskunst und Kriegshandwerk“ läßt Gerhard Ritter nun den zweiten Band folgen, der „Die altpreußische Tradition 1740—1890“ mit dem Thema „Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich 1890—1914“ fortsetzt und am L gedanken festhält, daß die militärischen Komponenten (das Kriegshandwerk) nie die Staatspolitik (Staatskunst) in ihr Joch zwingen dürfen. Der Verfasser widmet zunächst eingehende Untersuchungen dem „Militarismus“ in Frankreich, England, Rußland und Deutschland vor 1914 und glaubt bereits in der allgemeinen Rüstungspolitik Kräfte zu erkennen, die zwangsweise zum Krieg führen mußten, genährt hauptsächlich durch die Tätigkeit der militärischen Führungsspitzen und der Generalstäbe. Es ist somit die Wehrpolitik, die zur Diskussion gestellt ist, bei deren Erörterung aber die „zivile“ Seite schon aus Raumrücksichten nur gestreift werden konnte. Deshalb entgeht es aber dem Leser nicht, daß zum Beispiel Admiral Tirpitz wegen der Flottenaufrüstung heftig getadelt wird, jedoch letzten Endes Reichskanzler und Reichstag über die Flottenvorlagen entschieden haben; daß auf anderem Gebiete Graf Schlieffen wegen seines gewiß mancherlei Kritik herausfordernden strate"‘schen PU- nes scharfe Verurteilung erfährt, obwohl es die Staatspolitik war, die dem Plan zugestimmt hat; auch die dem mit nur wenig Sympathie bedachten General Conrad wegen seiner Kriegspläne gemachten Vorwürfe erscheinen in anderem Lichte, wenn man bedenkt, daß auch in Österreich- Ungarn selbstverständlich ausschließlich den Regierungen das entscheidende Wort Vorbehalten war. Nach Josef Redlichs Tagebuch war es übrigens der Außenminister Graf Aehrenthal selbst, der 1908 09 mit Italien und Serbien „abrechnen" wollte und der auch 1909 einem Krieg gegen Serbien durchaus seine Zustimmung erteilt hätte. Besondere Ablehnung erfahren gemeinsame militärische Operationsvereinbarungen, weil der Autor von ihnen eine „Einengung freier (das heißt politischer) Willensentscheidung durch sogenannte technische (das heißt militärische) Zwangsläufigkeiten“ befürchtet, die unter Umständen wohl das eine Mal eintreten kann, das andere Mal aber — wie im Falle Österreich-Ungarn und Italien — völlig ausblieb. Das wichtigste Kapitel nennt sich „Die Generalstäbe und der Kriegsausbruch“ (1914), in ihm wird nochmals hervorgehoben, daß es anfechtbare militärische Erwägungen waren, die schließlich die Politik zu verhängnisvollen Entschlüssen veranlaßt haben.

Ritters zweiter Band bietet erstmals eine lückenlose Schilderung der rein militärischen Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, wie wir sie in dieser Art noch nicht kannten, und über allem Zweifel bleibt des so maßgebenden Gelehrten Forderung nach unbedingtem Primat der Politik. Von größtem Wert ist das Schlußurteil des hervorragenden Historikers: „Es hat niemanden an führender Stelle gegeben, der einen Weltkrieg herbeiführen wollte; in diesem Sinne gibt es heute keine ,Kriegsschuldfrage’ mehr. Es gab aber einen Fatalismus des Glaubens an die Unvermeidbarkeit des großen Krieges und ein starkes nationales Prestige- und Geltungsbedürfnis, die beide zu politischer Blindheit führen konnten… vor dem Urteil der Geschichte kann auch politische Blindheit zur Schuld werden.“ Man kann jetzt sagen, die historische Aufhellung der Vorgeschichte von 1914 hat von berufenster Stelle aus durch straffe Zusammenfassung aller vorliegenden Publikationen ihren Ab schluß gefunden. Gerhard Ritter legte aber nicht bloß diesen Schlußstein der Forschung, sondern auch den Grundstein für eine andere Disziplin: für die praktische Politik. An dieser liegt es vor allem, die Lehren zu ziehen und dafür Sorge zu tragen, daß die Staatskunst nicht vom Kriegshandwerk — und wohl auch nicht von der Wirtschaft und Finanz oder noch von anderen nichtmilitärischen Kräften! — überspielt werde. Das Militär muß allerdings auch in Zukunft unbeirrt und ununterbrochen die erforderliche Rüstung verlangen und die nötigen konkreten Kriegspläne vorbereiten; ihm daraus auch nur den kleinsten Vorwurf zu machen, wäre ein bedenkliches Verkennen seiner Aufgaben. Woran es indes in der Vergangenheit sooft mangelte, das war eine zulängliche militärische Bildung der Staatskunstvertreter, und wenn sich diese von mit der Politik nicht harmonierenden militärischen Forderungen sozusagen hineinlegen ließen, dann bleibt die Verantwortung erst recht nur auf ihren Schultern, weil ihnen die alleinige Entscheidung zustand. Da in der Geschichte der meisten Länder Staatskunst und Kriegshandwerk wiederholt im Streite lagen, wäre es wirklich an der Zeit, nachdenklich zu werden und es endlich vorteilhafter einzurichten. Kein besserer Lohn könnte dem so mühevollen und von edelstem menschlichem Wollen getragenen Werke Ritters beschieden sein als im vornehmsten staatlichen Bereich, nämlich in der Landesver- te’divung, klare und einmütige Arbeit schon im Frieden sichemrstellen.

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