Zwischen unerhört und ungehört

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Melvin Jules Bukiet Groteske "Danach" verschont in seiner Formulierungswut nichts und niemanden, weder die Tradition noch die KZ-Überlebenden.

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Melvin Jules Bukiet Groteske "Danach" verschont in seiner Formulierungswut nichts und niemanden, weder die Tradition noch die KZ-Überlebenden.

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Daß eine schwarze Komödie über das Nazi-Inferno ohne Peinlichkeit möglich ist, bewies Edgar Hilsenrat mit "Der Nazi und der Friseur". Bei Melvin Bukiet befreien die Amerikaner ein KZ und stoßen auf Isaak, der durch den "Spaß" eines Bewachers nur noch Zahnstummel im Mund hat. Sein Anblick läßt den Soldaten im Panzer zusammenzucken. "So ein Mund war ein Plus", merkt Isaak wenig später, als er seinen ersten Dollar von einer amerikanischen Fotografin verdient. Fotos unterm Galgen, wie von Affen im Zoo, "und es war nicht viel anders als das Posieren, das sie in den vergangenen eintausend Tagen gemacht hatten, es war bloß ein anderes Posieren."

In den Eingangsszenen, wenn die Pointen so unerwartet um die Ecke sehen wie die Überlebenden und das Ganze plötzlich in einer anderen Dimension gesehen werden muß, stoßen wir auf die Essenz. Es geht nicht nur ums Weiterleben, sondern darum, wie mit dem Schicksal auch ein Geschäft gemacht werden kann. Beispiele liefern die Pressefotografin, die Leute vom "Joint" und Isaak selbst, der sich mit seinen Freunden auf das Fälschen von Ausweisen und Totenbescheinigungen spezialisiert. Er "begann, als Gegenleistung für Versprechungen und Einfluß Gefälligkeitskonten zu führen und mit Geschäften zu makeln ... und so hatte sich Isaak Kaufmann seit dem Augenblick, da er im Sonnenlicht der Baracke erwacht war ... innerhalb von sechs Werktagen etabliert als einer, der Bescheid wußte, wenn jemand Lebensmittel, Papier oder ein Bett im Krankenrevier brauchte. Und am siebten Tag da ruhte er keineswegs."

Der Unterschied zwischen "davor" und "danach" ist, daß es im KZ keine zweite Chance gegeben hat. Doch die Freunde machen nicht nur Geschäfte, sie haben auch Angst, wie Beispiel Fischl, der als einziger Überlebender in sein polnisches Dorf zurückkommt und plötzlich von einer "zerlumpten Rotzjungenarmee" gejagt wird, aber entkommt, da er das jiddische Tempo hat, "das rasch wie die Sprache, flüchtig wie eine Gedanke und mächtig wie das Leid ist."

Bukiets Spott verschont nichts und niemanden. Um Pessach mit koscheren Lebensmitteln feiern zu können, ist eine Luftbrücke nötig, der Seder-abend artet zur Orgie aus. Dies ist eine der Szenen, in denen das Unerhörte den Beigeschmack von Skandal und Geschmacklosigkeit bekommt. Offenbar war der Wunsch nach Unterscheidung vom bisher Geschriebenen, nach Originalität und Enttabuisierung, übermächtig. Der Grund für diese literarische Umweltung bleibt unklar, der Realität werden keine neuen Perspektiven erschlossen. Nichts ist Bukiet heilig, weder Gott noch Talmud noch Literatur, dennoch führt er sie im Hinterkopf mit und läßt seine Figuren wissen, welche Tabus sie brechen. Zuweilen wird es grell wie die Schminke der Nachtklubtänzerin im Nachkriegs-Berlin, dagegen ist die Pessach-Orgie ein matter Abklatsch. Wie beim Licht, das direkt ins Auge trifft, wird ein Zustand der Blindheit erreicht - oder Abstumpfung gegen den Tabubruch.

DANACH Roman von Melvin Jules Bukiet Aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz Luchterhand Verlag, München 1997 512 Seiten, geb., öS 336,

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