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Nina de Vries, in Potsdam lebende Holländerin, bietet für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung erotische Berührungen an.

Das kam ganz spontan", meint Nina de Vries, "ich habe gemerkt, dass mir das unheimlich Spaß macht." Im Jahr 1994 beginnt die Grafikerin und Künstlerin, erotische Massagen anzubieten. Vorher hat sie eine Therapie- sowie eine Massageausbildung absolviert und anschließend als Erzieherin in einem Rehabilitationszentrum gearbeitet. "Da konnte ich meine Scheu vor Menschen mit Behinderungen abbauen."

Nina de Vries' Massagekünste sprechen sich herum. Mit der Zeit kommen auch Menschen mit körperlicher Behinderung, um sich von ihr massieren zu lassen, später auch geistig behinderte Menschen. Seit einigen Jahren arbeitet Nina de Vries fast ausschließlich für Menschen mit schwerer geistigen Behinderung. "Für diese Menschen bestehen sonst praktisch keinerlei Angebote."

Erotische Atmosphäre

Die Holländerin Nina de Vries lebt in Potsdam bei Berlin. Sie empfängt ihre Besucher in weißer, bequemer Kleidung. Ihr schwarzes, langes Haar trägt sie offen. Die Räume sind einladend: Sonnendurchflutet, es duftet nach Räucherstäbchen. Im Zimmer mit der großen Matratze dominiert die Farbe Rot. Bilder von Blumen, indischen Gottheiten und Figuren von Niki des Saint Phalle erzeugen eine verspielt-erotische Atmosphäre. Hier besuchen sie die Klienten, die dazu in der Lage sind. Wer auf Grund seiner Behinderung nicht kommen kann, den besucht Nina de Vries zuhause oder in der jeweiligen Einrichtung.Ihr Angebot richtet sich an Männer und Frauen, doch es sind überwiegend Männer, die es in Anspruch nehmen. Häufig sind sie in einer echten Notsituation.

Nina de Vries erzählt von René, einem 28-jährigen Mann, der nach einem Motorradunfall mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma im Rollstuhl sitzt. Seine Hände "gehorchen" ihm nicht mehr, und er leidet sehr unter seiner angestauten sexuellen Energie. Seine Mutter, bei der er zwei Wochenenden im Monat verbringt, bemerkt die Not ihres Sohnes, aber sie weiß nicht, wie sie ihm helfen könnte. In einer Selbsthilfegruppe sprechen die Eltern von Betroffen über dieses Thema. Renés Mutter hört von Nina de Vries. Zehnmal wählt sie die Telefonnummer, legt aber immer gleich wieder auf - zu groß ist ihre Scheu. Einmal ist Nina de Vries schneller. Es folgen lange Telefongespräche. Nina de Vries schickt der Mutter ein Video über ihre Arbeit, in dem eine Mutter über ihren Sohn spricht. Die Mutter überwindet ihre Hemmungen und vereinbart einen Termin für ihren Sohn.

Seit zwei Jahren besucht Nina de Vries René nun regelmäßig, wenn er das Wochenende zuhause bei seine Mutter ist. "Für Eltern und Betreuer besteht eine Grenze, die sie nicht überschreiten können", erklärt Nina de Vries, "ein Sexualbegleiter kann in dieser Situation Hand anlegen'. Man kann das sehr liebevoll machen, was für diese Menschen unheimlich wohltuend ist." Renés Mutter spürt, wie wohltuend Nina de Vries' Berührungen für ihren Sohn sind, und sie ist froh, dass sie sich zu diesem Schritt entschlossen hat. Ihr Sohn hat dadurch ein Stück mehr Lebensqualität errungen.

Nina de Vries betrachtet den menschlichen Körper als kostbaren Schatz, auch wenn er behindert ist. Sie hilft ihren Kunden, die Art von Sexualität zu entdecken und zu leben, die zu ihnen passt. Manchmal, so erinnert sich Nina de Vries an eine Klientin, geht es vorwiegend um Körperwahrnehmung und Entspannung. "Wenn man zum Beispiel eine spastische Lähmung hat, dann ist der Körper oft sehr verspannt und schmerzt. Dann ist es sehr angenehm, diese Art von Berührung und Entspannung zu erleben."

Eigenständige Sexualität

Menschen mit körperlicher oder leichter geistiger Behinderung sollten in den Augen von Nina de Vries dabei unterstützt werden, ein möglichst eigenständiges Beziehungs- und Sexualleben zu führen. Sie hingegen arbeitet mit Menschen, die schwer geistig behindert sind, die nicht sprechen können und denen es in der Regel nie möglich sein wird, eine Paarbeziehung einzugehen. Die aber deutlich signalisiert haben, dass sie auf sexueller Ebene Unterstützung brauchen. Diese Menschen können bei Nina de Vries eine wichtige Erfahrung machen: Die Erfahrung, mit ihrem Körper angenommen zu werden. "Sie haben in ihrem Leben sehr oft Nein' erfahren: Nein, komm mir nicht zu nahe!', Nein, drücke mich nicht so fest!', Nein, das geht nicht, ich bin deine Mutter!' Daher ist es für diese Menschen ein unglaubliches Erlebnis, wenn jemand einfach ja' sagen kann."

Wenn Behinderte, Angehörige oder Betreuer möchten, dass Nina de Vries kommt, klärt sie zuerst telefonisch viele wichtige Fragen. Unter anderem auch den Preis: 80 Euro kostet eine Stunde bei ihr. Hausbesuche 110. Oft lädt man Nina de Vries ein, ihre Arbeit in einer Behinderteneinrichtung zu präsentieren, so dass alle Mitarbeiter Bescheid wissen. Meistens gewinnt sie das Vertrauen der Mitarbeiter, doch einige lehnen ihre Arbeit auch ab. "Dadurch nehmen sie diesen Menschen mit geistiger Behinderung eine wichtige Erfahrungsmöglichkeit weg. Sie sind ängstlich und misstrauisch. Ich denke es liegt am Umgang mit der eigenen Sexualität."

Bei den ersten beiden Terminen findet eine vorsichtige Annäherung zwischen Nina de Vries und ihren Klienten statt. Beide bleiben angezogen und Nina de Vries versucht herauszufinden, ob ihr Gegenüber ihre Dienstleistung wirklich will. Wenn sie etwa feststellt, dass ihr Kunde oder ihre Kundin nicht in erster Linie sexuelle Bedürfnisse hat, sondern sich vor allem nach Aufmerksamkeit, nach Kuscheln und Nähe sehnt, teilt sie das den Betreuern und Angehörigen mit. "Dann muss man dafür sorgen, dass jemand einmal abends schön den Rücken eingecremt bekommt." Sie lehnt die Arbeit in diesen Fällen ab. Ebenso wenn sie keinen Kontakt mit dem Menschen herstellen kann. "Das ist der Unterschied zur Prostitution, da geht es an erster Stelle ums Geld. Man denkt nicht daran, ob das jetzt sinnvoll ist oder mehr Lebensqualität schafft. Für mich ist es unvorstellbar, die Arbeit zu machen, wenn es nicht stimmig ist." Weil Nina de Vries Kunden meistens nicht sprechen können, achtet sie ganz genau auf jeden Blick, jeden Laut und jede Muskelbewegung. Das wichtigste bei ihrer Arbeit ist es, präsent zu sein und den eigenen Körper, die eigene Sexualität genau zu kennen. Vor allem auch die eigenen Grenzen. "In meinem Angebot ist kein Geschlechtsverkehr und kein Oralkontakt, also kein Küssen."

Eigene Grenzen kennen

Prostituierte wären ohne entsprechende Vorbereitung mit dieser Art von Arbeit überfordert. Auch Nina de Vries ist froh, dass immer eine Vertrauensperson, die den Kunden gut kennt, im Nebenzimmer wartet. Eine Frau zum Beispiel hat plötzlich angefangen, laut zu schreien, und Nina de Vries wusste zuerst nicht, was das bedeutet. Doch die Betreuerin hat Nina de Vries beruhigt. Es sei ein Zeichen, dass die Klientin sich freut und dass es ihr sehr gut geht. Außerdem, berichtet Nina de Vries, habe sie es mit menschlichen Körpern zu tun, mit Gerüchen, mit Schweiß, mit Urin, mit künstlichen Darmausgängen und Menschen, die Windeln tragen. "Da ist es wichtig, dass man ehrlich zu sich selber ist und seine eigenen Grenzen kennt."

Hartnäckiges Tabu

In Österreich bietet bisher niemand diese Art von Dienstleistung an (siehe Artikel links). In der Schweiz hingegen hat Nina de Vries sechs Frauen und vier Männer zu Sexualbegleitern ausgebildet - freilich nicht ohne Schwierigkeiten. Als das Vorhaben bekannt wurde, brachen auf Grund kritischer Medienberichte beim Behindertenhilfswerk Pro Informis, das den Kurs durchführen wollte, die Spenden ein, obwohl überhaupt keine Spendengelder dafür verwendet werden sollten. Für viele Menschen ist die Sexualität von Behinderten noch immer ein absolutes Tabuthema. Inzwischen hat man einen unabhängigen Trägerverein ins Leben gerufen und einige der Berührerinnen praktizieren schon. Leute mit Helfersyndrom seien für diese Arbeit jedenfalls ungeeignet, meint Nina de Vries. "Die Arbeit muss mit Freude gemacht werden. Nur so kann es eine wirklich gute Sache sein."

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