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John Rawls, Philosoph und Menschenfreund, starb 81-jährig in Boston. Seine "Theorie der Gerechtigkeit" zählt zu den meistdiskutierten Beiträgen für eine politische Ethik der modernen Gesellschaft.

Er verband tiefe Weisheit mit gleichermaßen tiefer Menschlichkeit", sagte der Präsident der Harvard Universität, Lawrence Summers, über John Rawls. Rawls, dem die höchste Ehre zuteil wurde, die Harvard zu vergeben hat - der Status eines University Professor -, starb am 24. November im Alter von 81 Jahren an einem Herzversagen. Seine philosophische Kompetenz und Gelehrsamkeit trugen ihm die Anerkennung seiner Berufskolleginnen und Kollegen ein, seine Menschlichkeit verschaffte ihm Respekt weit über die Grenzen seines Berufsstandes hinaus.

Seine Überlegungen zur Politischen Philosophie, vor allem zur Theorie der Gerechtigkeit, sind von diesen beiden Pfeilern, "wisdom and humanity", geprägt. Rawls verband Philosophie und Demokratie. Treibend für sein Werk war sein Glaube an das Gute im Menschen, sein Optimismus, dass sich Menschen bessern könnten, seine Einstellung eines - wie er es nannte - "realistischen Utopismus".

John Rawls wurde am 21. Februar 1921 in Baltimore geboren, studierte in Princeton, war Soldat während des Zweiten Weltkriegs in Neu Guinea, auf den Philippinen und in Japan und kam 1962 an die Harvard Universität. Entscheidend für die philosophische Welt wurde das Jahr, in dem John Rawls seinen 50. Geburtstag feierte: 1971 erschien sein Hauptwerk "Eine Theorie der Gerechtigkeit" ("A Theory of Justice"). Mit diesem Buch brachte Rawls die Politische Philosophie, die damals ein Mauerblümchendasein fristete, und die Frage nach einer gerechten Gesellschaft vom Rand in die Mitte der Philosophie. Rawls entwickelte darin eine sehr differenzierte Theorie des gerechten menschlichen Zusammenlebens, orientiert an einem Begriff von Gerechtigkeit als Fairness.

Vorrang für Fairness

Rawls stellt sich die Frage, welche Gesellschaft Menschen wählen würden, wenn sie nicht um ihre Fähigkeiten, ihren sozialen Status, ihre Position in der Generationenabfolge, ihre nationale Zugehörigkeit oder Ähnliches wüssten. Für welche Prinzipien, die das menschliche Zusammenleben regeln sollten, würden sich die Menschen unter diesem "Schleier des Nichtwissens" ("veil of ignorance") entscheiden? Dieser Kunstgriff einer kontrafaktischen Ausgangssituation ist weithin berühmt geworden.

Nicht weniger berühmt wurden die Konturen der Antwort, die John Rawls gab: Er geht davon aus, dass sich die Menschen in dieser Wahlsituation unter einem Schleier des Nichtwissens darauf einigen würden, die primären Güter (Freiheit und Gelegenheiten, Einkommen und Vermögen und die Grundlagen der Selbstachtung) egalitär verteilen würden - außer eine ungleiche Verteilung von einigen oder allen diesen Gütern würde zum Vorteil derjenigen sein, die eine am wenigsten vorteilhafte Ausgangsposition haben. Rawls konzipiert Gerechtigkeit auf dieser Grundlage nach zwei Grundprinzipien: Erstens soll jede Person gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. Zweitens: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass sie (a) den Benachteiligten den größten Nutzen bringen und (b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen unter Bedingungen einer fairen Verteilung von Gelegenheiten ("opportunities") offen stehen.

Ich halte es für bemerkenswert, dass John Rawls auf einer nichtreligiösen Basis das formuliert, was in der Theologie als "Option für die Armen" bekannt geworden ist. Berühmt geworden ist eine sehr einfache Fragestellung als der "Rawls Test": Würden diejenigen, die am besten dran sind, bestimmte soziale Arrangements akzeptieren, wenn sie jederzeit davon überzeugt wären, dass sie sich an der Stelle der am meisten Benachteiligten finden könnten? Anhand dieser Leitfrage soll die Entfaltung von Menschen im Rahmen einer wohlgeordneten Gesellschaft bedacht werden.

Durch die beiden genannten Prinzipien seiner Gerechtigkeitstheorie möchte Rawls sicherstellen, dass Menschen in einer Gesellschaft einen "Lebensplan" entwickeln und verwirklichen können. Ein Lebensplan ist ein Entwurf des Menschen in die Zukunft hinein. Ein vernünftiger Mensch ist nach Rawls bestrebt, einen vernünftigen Lebensplan aufzustellen, und eine wohlgeordnete Gesellschaft ermöglicht die Entwicklung vernünftiger Lebenspläne. Ein Lebensplan ist dann vernünftig, wenn er einem Menschen die Möglichkeit gibt, das in ihm schlummernde Potenzial zur Entfaltung zu bringen. Ein vernünftiger Lebensplan gestattet dem Menschen, sich zu entfalten, soweit es die Umstände zulassen, und seine ausgebildeten Fähigkeiten auszuüben, soviel er kann.

Bei der Erstellung eines Lebensplans gilt der aristotelische Grundsatz, der in der Formulierung von Rawls besagt, "dass Menschen unter sonst gleichen Umständen ihre Fähigkeiten (angeborene oder erlernte) auch einsetzen möchten und dass die Befriedigung desto größer ist, je besser entwickelte oder je kompliziertere Fähigkeiten eingesetzt werden. Man tut etwas desto lieber, je besser man es kann, und von zwei Tätigkeiten, die man gleich gut kann, zieht man diejenige vor, die mehr und scharfsinnigere und kompliziertere Urteile verlangt." Ein guter Lebensplan nimmt die steigenden Erwartungen an die eigenen Fähigkeiten vorweg und ist darauf ausgerichtet, einen Menschen zum Blühen zu bringen, sein oder ihr Potenzial Entfaltung zu ermöglichen. So will Rawls die Idee der Gesellschaft mit der Idee des Individuums versöhnen. Deutlich zeigt sich hier auch, dass neben Immanuel Kant Aristoteles als wichtiger Lehrer für John Rawls gedient hat.

Rawls' "Theorie der Gerechtigkeit" wurde in zwei Dutzend Sprachen übersetzt und provozierte mehr als 5.000 Bücher und Artikel. Rawls, sein Leben lang ein bescheidener Mensch, tat nichts, um den Verkaufserfolg des Buches (200.000 verkaufte Exemplare!) voranzutreiben. Das Gewicht und die Klarheit der Thesen sprechen für sich selbst. Für die Fruchtbarkeit seiner Thesen spricht auch die heftige Kritik an Rawls. Man stempelte ihn als "Egalitaristen" oder "Rationalisten" ab, Feministinnen monierten seine fehlende Sensibilität gegenüber gender-Fragen. Im Zeitalter der Globalisierung wurden die Grenzen seiner Theorie im transnationalen Bereich aufgezeigt, Kulturtheoretiker wiesen auf die kulturellen Grenzen seines Entwurfs hin, andere warfen ihm vor, die Rolle des Staates zu überschätzen, wieder andere kritisierten sein Menschenbild.

Umstrittene Thesen

Auch diese Kritik hat sich als fruchtbar erwiesen: Beharrlich hat John Rawls an der Verfeinerung seiner Theorie gearbeitet, Schritt für Schritt, langsam und stetig, ähnlich wie er langsam und beharrlich seine Publikationstätigkeit begonnen hat (sein erster Artikel erschien 1951, sein zweiter 1955, sein dritter 1958). Vor allem in Richtung einer Philosophie des Politischen Liberalismus hat sich Rawls weiterbewegt und sich in seinem Buch "The Law of Peoples" auch Fragen transnationaler Gerechtigkeit gestellt. Meilenstein seiner Arbeit blieb jedoch sein Hauptwerk, dessen Ideen ihn bis zuletzt beschäftigten: Im Jahr 2001 erschien sein letztes Buch - "Justice as Fairness: A Restatement".

Mit John Rawls ist ein großer Philosoph und ein großer Mensch von uns gegangen. Hilary Putnam, ein berühmter Kollege von Rawls an der Harvard Universität, sagte es sehr deutlich: "John hat nicht nur darüber nachgedacht, wie man Gutes tun und gut sein könne, er schien es selbst in seinem Leben beispielhaft zu zeigen. Seine persönliche Gutheit war erstaunlich" ("His personal goodness was just astonishing"). Es ist bemerkenswert und bringt Dinge ins rechte Lot, wenn der Nachruf auf einen großen Philosophen nicht mit dessen philosophischen Leistungen schließt, sondern mit dem Beispiel seines Lebens. Schließlich soll uns Philosophie immer wieder daran erinnern, worum es eigentlich geht, in diesem Leben, aufs Ganze gesehen. Kann des dann verwundern, dass der letzte Satz von Rawls' Theorie der Gerechtigkeit von der "Reinheit des Herzens" spricht? "Reinheit des Herzens, wenn sie jemand erreichen könnte, hieße ... klar sehen und mit Anmut und Souveränität handeln."

Der Autor ist Professor für Erkenntnistheorie und Religionswissenschaft an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Salzburg.

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