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Robert Menasse, Autor des preisgekrönten EU-Romans "Die Hauptstadt", ist nicht nur Dichter, sondern auch homo politicus. Im November letzten Jahres, anlässlich des 100-jährigen Gedenkens an das Ende des Ersten Weltkrieges, initiierte er eine zur Kunstaktion überhöhte Kampagne für eine künftige "Europäische Republik". An zahlreichen Schauplätzen verkündeten damals Kunstschaffende sein Manifest für ein Europa, das einst nicht mehr aus Nationalstaaten, sondern nur noch aus Regionen bestehen soll.

Bald darauf wurde er dabei ertappt, Walter Hallstein, den allerersten Kommissionspräsidenten der EG, mit dem lapidaren Satz "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee" falsch zitiert zu haben. In einem für "Fake News" sensibel gewordenen Umfeld wurde daraus rasch ein Skandal. Menasse verteidigte sich streitlustig. Er gab zwar zu, sich auf keine wörtliche Aussage von Hallstein beziehen zu können, bestand aber darauf, dessen Intentionen voll entsprochen zu haben. Und tatsächlich lassen sich genügend Belege dafür finden, dass die Gründer des europäischen Projektes -allerdings ohne ausdrückliche Abschaffung der Nation! - in der Langfrist-Perspektive letztlich einen europäischen Bundesstaat anstrebten.

Wozu also die ganze Aufregung? Rechtfertigt die eifrige Begradigung der von Menasse verwischten Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit all den Lärm? Oder ist die hitzige Auseinandersetzung um die Authentizität der Aussagen eines lange verschollenen europäischen Gründervaters in Wirklichkeit nur Symptom einer viel tiefer liegenden Verunsicherung über Europas politische Zukunft?

Europäische (Ver-)Fassungslosigkeit

Tatsächlich wurde ja der Entwicklungspfad einer sich ständig vergrößernden ("ever enlarging") Union nicht erst mit den Brexit-Wirrungen unübersichtlich. Schon vor einem Jahrzehnt, als die Finanzkrise die Haushaltslage der Mitgliedsstaaten zerrüttete, kam es zu ersten, massiven Unsicherheiten über die weitere Entwicklung. In durchaus beachtlicher Improvisationskunst gelang es in der Folge, Euroland mit permanenten Rettungsschirmen und Sondermaßnahmen der EZB neu zu befestigen.

Zugleich zeigten sich aber unerwartete Folgen der Wanderungsfreiheit innerhalb des Binnenmarktes in Form permanenten Lohndrucks zu Lasten der unteren und mittleren Einkommen. Und als wäre das nicht kompliziert genug, kamen dann mit 2015 die Folgeprobleme der Flüchtlingskrise dazu, verbunden mit einem seit damals offen daliegenden Dauerkonflikt zwischen den Mitgliedsstaaten über solidarische Lösungen. Das Einstimmigkeitsprinzip verhindert in praktisch allen damit zusammenhängenden Fragen taugliche Lösungen.

(Ver-)fassungslos stehen wir vor einem Europa, das mit einem Mal nicht vor oder zurück weiß. Dagegen hilft jedoch nicht die Ablenkung durch Streitigkeiten über Auslegungsfragen von Zitaten aus den Fünfzigerjahren. Gefordert ist vielmehr eine grundsätzliche Auseinandersetzung. Die bevorstehenden Wahlen zum Europaparlament bieten dafür eine gute Gelegenheit.

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