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Bilder, die man aus der Hüfte schießt

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Wolfgang Stranzinger hat seine Kamera immer dabei. Wenn es seine Zeit zuläßt, verschießt er zwei bis drei Filme pro Tag. Doch wie er das tut, ruft bei Amateur- und Rerufsfotografen Kopfschütteln hervor: Stranzinger hält seine kleine, schwarze Kompaktkamera weit von sich gestreckt oder in Hüfthöhe, wenn er den Auslöser betätigt. Er knipst aus allen möglichen Positionen und verwendet auch in der Nacht oder in geschlossenen Räumen keinen Blitz. Stranzinger nennt das, was er tut, nicht „fotografieren”, sondern „lomographieren”. Und Stranzinger ist nicht der einzige, der dieser Leidenschaft frönt: Er ist einer der beiden „Weltpräsidenten” der Lomographischen Gesellschaft, einem losen Verein, dem mittlerweile 25.000 Lomographen in aller Welt angehören.

Lomographie heißt, möglichst viele Schnappschüsse aus möglichst ungewöhnlichen Positionen zu machen. Die wohlüberlegte Wahl eines Bildausschnittes oder das Einrichten und Drapieren des Motivs („Noch ein bißchen weiter nach links, Heinz-Rüdiger!”) sind verpönt. Spontaneität und Experimentierfreudigkeit sind gefragt: „Man macht sich kein Bild vom Bild”, erklärt Stranzinger. Lomographen richten ihre Kameras auch nicht auf dieselben Objekte wie herkömmliche Fotografen: Die Alltagskultur, die „kleinen Dinge am Rande” sind für Lomographen die einzig wirklich lohnenswerten Motive. „Man braucht ein Auge für das scheinbar Unwichtige”, erläutert der Weltpräsident: „Die Sehenswürdigkeiten sind auf Postkarten ohnehin viel schöner, als man sie selbst je fotografieren kann.”

Lomographen benutzen ausschließlich jene Kamera, die der Lomographie den Namen gegeben hat: die Lomo LC-A, eine kleine Kompaktkamera aus russischer Produktion. Hergestellt wird der altmodische Apparat, der weder über eingebauten Rlitz, Autofokus oder sonstigen technischen Schnickschnack verfügt, von einer St. Petersburger Firma mit dem charmanten Namen „Leningrädskoe Optiko Mechanitscheskoe Objedinle-nie” (Leningrader Mechanisch-Optische Werke) - abgekürzt: Lomo. Das in die Lomo LC-Ä eingebaute Weitwinkelobjektiv gestattet es, sehr nahe an das Motiv heranzurücken, eine spezielle Glaslinse sorgt für besonders knallige Farben und die vollautomatische Relichtung ermöglicht auch Langzeitbelichtungen. Diese Eigenschaften, die Experimenten Tür und Tor öffnen, machen aus Fotografen Lomographen uns aus Fotografien Lo-mographien.

Regonnen hat die Geschichte der Lomographie mit einem Zufall. Im Jahre 1991 machten ein paar Studenten aus Wien Urlaub in Prag. Weil sie so billig war, kaufte Matthias Fiegl -nunmehr der zweite Weltpräsident der Lomographischen Gesellschaft in einem kleinen Fotogeschäft eine Lomo LC-A und ein paar Filme, die schnell verschossen waren. Die ausgearbeiteten Rilder offenbarten die besonderen Eigenschaften der russischen Kamera und diese Aufnahmen machten Furore in Wiener Kunststudentenkreisen. Rald darauf wurden 30 Lomos aus Rratislawa eingeschmuggelt, die sofort reißenden Absatz fanden. 1992 wurde die Lomographische Gesellschaft gegründet und Lomos offiziell in großen Mengen importiert. Noch im selben Jahr wurden zum ersten Mal Lomographien ausgestellt.

Was als Studentenjux begann, verbreitete sich bald von Österreich in die ganze Welt. Jassir Arafat konnte ebenso für die Lomographie begeistert werden wie Alois Mock, der 1994 eine große Lomographie-Ausstellung in New York eröffnete. „Wir sind in ein Vakuum gestoßen”, vermutet AVeltpräsident Fiegl: „Intuitiv haben viele Leute, ohne es zu wissen, schon immer lomographiert.”

Im Februar des Vorjahres jedoch, drohte das Ende des Lomo-Kultes: „Wir lieben euch Lomographen, aber wir können so nicht weiterproduzieren”, eröffnete Ilya Igorowitsch Kle-banov, der Generaldirektor der Lomo-Werke, den entsetzten Lomographen: Die Produktion der Lomo LC-A sei einfach nicht mehr rentabel und werde daher eingestellt. Nach einer Intervention beim Rürgermeister von St. Petersburg konnte das Aus gerade noch abgewendet werden. Mittlerweile planen die Lomographen, die Produktion ihrer heißgeliebten Kamera selbst in die Hand zu nehmen. Die Verhandlungen zwischen der Lomographischen Gesellschaft und Lomo-Generaldirektor Klebanov laufen auf Hochtouren: Noch im Herbst sollen

Maschinen, Patente, Lizenzen und 150 russische Mitarbeiter von den Lomographen übernommen werden.

Vielleicht können die Weltpräsidenten den erfolgreichen Abschluß des Geschäfts am Lomo-Weltkongreß verkünden, der von 22. bis 26. Oktober in Madrid stattfindet. Die Lomographische Gesellschaft organisiert auch Reisen, vor allem in die letzten Rastionen des real existierenden Sozialismus, „bevor er endgültig verschwindet” (Stranzinger). Schließlich ist ja auch die Lomo ein Relikt des Kommunismus.

„Lomographie ist mehr als ein neuer Ansatz der Fotografie; Lomographie it ein Iebensge-fühl”, schwärmt Weltpräsident Stranzinger. Ein gewöhnlicher Fotoapparat trennt den Fotografen vom zu fotografierenden Objekt. Genau das wollen die Lomographen aber vermeiden. „Lomographieren ist nicht Unterbrechung des Alltags, sondern ein versteckter, beziehungsweise inszenierter desselben ”, lautet eine der -Zehn Goldenen Regeln der Lomographie”, die jeder Resitzer einer Lomo mit auf den Weg bekommt. Stranzinger lobt die kommunikative Wirkung des Lomographierens: „Egal wo man ist: Wenn man lomographiert, lachen die leute sofort und sagen: ,Da ist sicher gar kein Film drin' - und schon ist man mitten in einem Gespräch.”

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