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Die Bretonen melden sich zum Wort

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Der Seismograph der offiziellen Pariser Politik schlägt bei wenigen Dingen so erregt aus wie bei bretonischen Angelegenheiten. Damit können höchstens noch elsässische Affären und — natürlich — Algerien konkurrieren. Mit anderen Worten: jener Seismograph reagiert am empfindlichsten, wenn es um den durch den Algerienkrieg akut gewordenen, latent jedoch seit Jahrzehnten schwelenden Kampf zwischen dem sakrosankten Zentralismus und föderalistischen Bestrebungen geht. Man hat das in diesen Wochen wieder recht anschaulich erlebt. Als die Meldung durch die Presse ging, am 10. November dieses Jahres habe sich in Lorient in der Bretagne ein „M ouvement pour l’Organisation de la Bretagne” (M. O. B.) konstituiert, brach sogleich der Sturm los. Je nach Geschmack wurden diese Föderalisten sogleich als „Autonomisten”, als „bretonische Nationalisten” oder gar als „Separatisten” apostrophiert. Und es hieß auch gleich, es könne sich da nur um „Nazis” und um „Feinde Frankreichs” handeln. Den Vogel schoß ein rechtsextremistisches Wochenblatt in Paris ab mit dem Kommentar: „Nun wird es ja nicht lange dauern, bis die Fellaghas in der Banlieue von Rennes auf tauchen.”

DIE UNVERDAUTEN LANDSCHAFTEN

Das bretonische Problem ist recht komplex. In einem Bericht wie diesem können wir bloß seine Umrisse skizzieren. Die Bretagne gehört zu den wenigen französischen Landschaften, die vom Pariser Zentralismus noch nicht völlig „verdaut” worden sind. Das stellt sie in eine Reihe mit dem Baskenland, mit Korsika und dem Elsaß. In allen vieren hat sich bis heute noch eine Sprache halten können, die nicht die Sprache des Pariser Zentralismus ist. Diese Sprac-hen sind zwar hart bedrängt, doch bilden sie bis heute ein „Reduit”, an dem sich der Zentralismus bricht. Das gilt beispielsweise auch für die zahlreichen Bretonen, die gar nicht mehr bretonisch sprechen: allein die Tatsache, daß ein Teil ihres Stammes eine eigene Sprache spricht, erinnert sie daran, daß sie sich von anderen Landschaften Frankreichs und vor allem von dessen Hauptstadt unterscheiden.

Gemeinsam haben die Bretagne und das Elsaß allerdings auch, daß diese Sonderheit zu ganz konträren Reaktionen führen kann. Beim einen stärkt sie den Widerstandswillen gegen die aus der Hauptstadt herdringende Gleichmacherei. Beim anderen wieder weckt sie das gierige Bestreben, die als „bäurisch” empfundene Eigenart abzulegen und zum zweihundertprozentigen „Pariser” und Zentralisten zu werden. Wir kennen ein in der bretonischen Sprache aufgewachsjnes Ehepaar, das in der Bretagne nur bretonisch sprach, seit der Uebersiedlung nach Paris aber selbst untereinander nur noch französisch spricht. Und die Elsaß-Lothringer, die französischer sein wollen als diejenigen, die das weit länger sind als sie selbst, sind jedem Franzoseir vertraute Figuren.

Ė Eine weitere Verwandtschaft zwischen dem Elsaß und der Bretagne besteht in der starken Verflechtung ihres Föderalismus mit dem katholischen Klerus. Obwohl der Katholizismus selbst eine zentralistische Macht ist, steht er doch mit den bodenständigen Kräften in einer gemeinsamen Abwehrfront gegen den von Paris ausgehenden laizistischen Zentralismus. Das gilt zumindest für den niederen Klerus in den beiden Landschaften, für den mehrheitlich — zumindest sofern es sich bei ihnen selbst um Bretonen oder Elsässer handelte — der Kampf für die Volkssprache ein Kampf gegen die Sprache Voltaires war. Anders liegt es natürlich beim hohen Klerus. Die Bischöfe kann die Kurie nur im Einvernehmen mit der Regierung ernennen. Ein bretonisches Flugblatt dieses Jahres erklärt: „Zur Zeit sind die Bischöfe der drei wichtigsten Diözesen: Rennes, Nantes und Quimper (drei von insgesamt fünf) keine Bretonen. Und ein einziger versteht das Bretonische.”

Ueber all diesen elsässisch-bretonischen Gemeinsamkeiten dürfen jedoch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den beiden Landschaften nicht übersehen werden. Öer Unterschied zwischen einer vorwiegend germanischen und einer vorwiegend keltischen Bevölkerung ist dabei nicht das wesentliche. Entscheidend ist vielmehr, daß das Elsaß unmittelbar an Deutschland grenzt und föderalistische Bestrebungen in dieser Landschaft der Verlockung ausgesetzt sind, beim gleichsprachigen Nachbarstaat Anlehnung zu suchen. Die Bretagne hingegen grenzt an das Meer. Das auf sein Kelten- tum stolze Irland liegt nicht nur weit weg, sondern ist auch keine Macht von internationalem Gewicht. Und die Kelten in Wales und Cornwall stehen in einem ähnlichen Abwehrkampf gegen die Staatssprache wie die Bretonen selbst.

SONDERFALL BRETAGNE

Das hat allerdings gewisse extremistische Elemente in der Vergangenheit nicht gehindert, ihre Hoffnungen auf Deutschland, und zwar insbesondere auch auf Hitler-Deutschland, zu setzen. Det Anteil deutscher Wissenschaftler an der Wiederentde’ckung der keltischen Welt ist groß, und am Nationalsozialismus mochten gewisse föderalistische Dekors seiner Ideologie an- ziehen. Eine kleine bretonische Minderheit suchte darum die deutsche Besetzung von 1940 bis 1944 zur Durchsetzung ihrer Autonomiewünsche (oder gar Separationswünsche) auszunützen, bis sie zu spät merkte, daß sie aus den Armen des einen zentralistischen Staates in die eines anderen gera ten jvaj, Diesg&Afcenieuei; der bretonischen Nationalisten um Debauvais (vor Kriegsende gestorben) und Mordrel .(heutJ in der Emigration) hat bis heute seine Schatten auf jeden Versuch eines bretonischen Föderalismus geworfen. Er wird unweigerlich mit jenen Extremisten identifiziert. Großzügige Aufteilungspläne gewisser nationalsozialistischer Stellen, die nach dem Krieg in Frankreich veröffentlicht wurden und vom heutigen Frankreich noch ein Indianerreservat um die Ile de France bestehen ließen, taten den Rest dazu. Aber all das ändert nichts daran, daß bei nüchterner Betrachtung die geopolitische Bedeutsamkeit des Föderalismus im Elsaß eine ganz andere ist als in der Bretagne.

Der zweite wesentliche Unterschied ist, daß das Elsaß eine wirtschaftlich starke Provinz, die Bretagne jedoch ein ausgesprochenes Notstandsgebiet ist. Gerade am Bei-spiel der Bretagne läßt sich das für Frankreichs ‘ Bestand Gefährliche der heutigen industriellen Schwerpunktbildung deutlich zeigen. Die Konzentrierung der europäischen Industrie auf das Einzugsgebiet von Maas und Rhein hat innerhalb Frankreichs die Konzentration auf den Gürtel Flandern—Seinebecken—Lothringen— Rhonetal begünstigt. Die peripher placierte Bretagne, die — von den Schiffahrtsstraßen abgesehen — an keinem der großen Verkehrswege liegt, wird in allen Plänen einer Strukturreform vernachlässigt, handle es sich nun um die Elektrifizierung der Bahnen oder um die Dezentralisierung der Industrie um Paris. So wurden von 65 aus dem Seinebecken dislozierten Unternehmen ganze zwei in die Bretagne verlegt. Dabei müssen jährlich 20.000 bis 22.000 Bretonen aus Mangel an Arbeit ihre Heimat verlassen! Daß in den wenigen Industriezentren der Bretagne, vor allem in Nantes und Saint Nazaire, alle sozialen Kämpfe so leicht einen wild-anarchischen Charakter annehmen und meist rasch der gewerkschaftlichen Führung entgleiten, liegt nicht bloß am jähen und starrsinnigen keltischen Temperament. Der Arbeiter, der bei den kürzlichen Unruhen in St. Nazaire getötet wurde, war ein Vater von acht Kindern, der zu einem Hungerlohn 42 (zweiundvierzig) Kilometer von seinem Wohnsitz entfernt arbeiten mußte …

VOM SENTIMENT ZUM SOZIALEN

Kein Wunder, daß diese „Bewegung für die Organisation der Bretagne” (M. O. B.), die sich vor wenigen Tagen der Pariser Presse vorstellte, das Hauptgewicht aufdie sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Bretagne legt. Es war nicht bloß der Wunsch, sich der Belastung durch jene extremistischen Grüppchen der Vergangenheit zu entziehen, wenn die Pressekonferenz unter dem Motto stand: „Die sentimentale Fragestellung des bretonischen Problems ist überholt — es geht jetzt einfach darum, ob die Bretagne weiterexistieren kann.”

Typisch waren allein schon die fünf Männer des sechzehnköpfigen Direktoriums des M. O. B„ die sich der äußerst neugierigen Presse stellten. Man fand unter ihnen keinen jener Sektierer oder Nur-Intellektuellen, die sonst Gruppen dieser Art repräsentieren, und auch kein „Gschaftlhuber” war unter ihnen zu sehen. Man hatte sachlich nüchterne Köpfe vor sich, die offensichtlich im Berufsleben ihren Mann stellen: einen Ingenieur und „Polytechnicien” (also republikanischer Adel!), einen geographischen Zeichner; einen Baumeister und den Direktionsattache einer Bank. Und selbst der fünfte und umstrittenste dieser Delegation, Yann Fouėre, der einst Redakteur eines föderalistischen Organs war, betätigt sich heute von seinem irischen Wohnsitz aus als Großhandelsmann in Schalentieren.

Was die fünf Bretonen auf die Fragen nach ihren Zielen antworteten, ist einfach und logisch. „Heute dreht sich die ganze französische Politik um den Föderalismus. Wieso soll das nur für Afrika gelten? Wieso nicht auch für die französischen Provinzen? Dezentralisation — das ist der Wunsch aller in Frankreich!” Der Föderalismus soll der Bretagne, als „einer der enterbtesten Provinzen” des Landes, wieder zu wirtschaftlicher Blüte verhelfen. Aber - nicht Abschließung oder gar Separation sei das Ziel. „Wir möchten die Fenster öffnen! Wir wollen in der Wohnung Bretagne, im Hause Frankreich, im Quartier Europa leben!”

Die Frage nach den konkreten Nahzielen wird mit dem Hinweis beantwortet, daß man sich erst vor 14 Tagen konstituiert habe und die Pläne für das praktische Vorgehen erst ausgearbeitet werden müßten. Zugegeben wird aber, daß man für die Bretagne wie für jede andere französische Provinz ein Regionalparlament anstrebt, das sich der besonderen Sorgen dieser Landschaft anzunehmen und sie der Hauptstadt gegenüber zu vertreten hat. Das richtet sich gegen die bisherige Alleinherrschaft der von Paris ernannten Präfekten. Und die Provinzen müßten nicht nur ihre politischen, sondern auch ihre administrativen und kulturellen Institutionen haben. Weil in der Bretagne die föderalistische Tradition nie erloschen sei, könne von ihr die Reform Frankreichs ihren Ausgang nehmen.

DAS DILEMMA

Was die fünf Männer vortragen, ist vernünftig. Man kann darin nur mit sehr viel Voreingenommenheit etwas Staatsgefährliches entdecken. Und ihr Auftreten und der physio- gnomische Eindruck, den man von ihnen gewinnt, lassen den Schluß zu, daß sie es wirklich so meinen und diese Gedanken nicht einfach zur Tarnung anderer Absichten vorgetragen haben.

Aber sind ihre Ideen nicht z u vernünftig? Kann man mit solchen rein auf den wirtschaftlich-sozialen Bedürfnissen aufbauenden Reformplänen wirklich eine Volksbewegung aus dem Boden stampfen? Man kann zweifeln, ob eine solche Bewegung ohne politische Operationen auskommen kann. Eine föderalistische Bewegung wie der M. O. B. steht ja nicht einfach einer falschen Art von Verwaltung gegenüber, die er durch eine richtige ersetzen will. Der Zentralismus ist vielmehr das zentrale Dogma der jakobinischen Ideologie, die sich mit der Republik und dem Staat identifiziert und eine Art von laizistischer „Kirche” darstellt. Der Kampf um eine föderalistische Reform Frankreichs kommt damit einem Kirchenstreite gleich — das zeigt sich schon allein an dem gefühlsbelasteten Ausbruch, den jeder föderalistische Vorstoß auslöst. Es fragt sich darum, ob eine Bewegung von der Art des M. O. B. in einem solchen Kampf mit einer rein ökonomischen Argumentation bestehen kann und nicht vielmehr bald gezwungen sein wird, auf jene „sentimentalen” Waffen zurückzugreifen, die man ausscheiden zu können glaubte.

Das- Dilemma ist groß. Entweder bleibt der M. O. B. bei seinen heutigen Argumenten, die kaum angreifbar sind, und nimmt damit die leicht vorauszusagende Unwirksamkeit in Kauf. Oder aber er greift zu wirksameren Waffen und gerät damit automatisch in dasselbe Zwielicht wie die früheren bretonischen Bewegungen.

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