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GLOCKEN ÜBER DEN LAGUNEN

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Wer die Schallmauer der Gradineser Küste durchbricht, die Lärmflut der Myriaden von Transistoren, den unstet wirbelnden Strom des völkerwanderungsigileichen Tourismus — all den Schlachtlärm der südenhungrigen, meerberauschten Binnenvölker teilt, der stößt hinter dem Niemandsland der Stille unversehens auf einen längst verloren geglaubten Horizont verwehter Geschichte.

Wie eine feurige Glocke ist die Hitze über die Ebene gestülpt. Von Triest kommend, flieht die Straße durch glühende Äcker, über die der Weinstock von Baum zu Baum seine Festons schwingt, dem Isonzo zu. Eine große Brücke hebt sie in die hitzeflirrende Luft empor und bettet sie am jenseitigen Ufer behutsam auf die verträumte Erde des untergegangenen Aquileja. Die auf dem Marsfeld stehende Villa Vincentina der Exkaiserin Eugenia sinkt müde in die Felder zurück, und in das südliche Blickfeld tritt langsam die schicksalhafte. Kathedrale des Patriarchen Popo mit ihrem das ganze friaulischę TięSąnd jjjjgęsęiiąueuden Glockenturm.

Sein Geläute erzählt von längst vergangenen Tagen, von feierlichen Einzügen streitbarer Kirchenfiürsten mit ihrem Gefolge bewaffneter Mönche und betender Krieger, vom wilden Wortstreit der Konzilien, von den Gesängen und Litaneien der Menge, welche die weiten Räume der Basilika durchbrausten. Vorüber, alles vorüber…

Verschwunden die Herrlichkeit des langobardisch-frän- kischen Patriarchenstaates, verlaufen auch die Menge, die einst den großen Christentempel füllte. Seine Heiligen scheinen die Wunderkraft verloren zu haben. Das fromme Volk, das nach Gnadenquellen dünstet, wallt an dem großen Gotteshaus vorbei an den Lagunenstrand und fährt mit dem Schiff hinüber zur wunderwirkenden Madonna von Barbana.

Noch lauter als das glaubensstarke Mittelalter spricht das römische Altertum aus den Trümmern, die in weitem Umkreis die Erde bedecken. Die Ausgrabungen vermitteln ein deutliches Bild von Anlage und Ausdehnung der römischen Großstadt und den kulturellen Verhältnissen ihrer Bewohner.

Ein römischer Kanal führt aus der Lagune. Der Zauber der Einsamkeit liegt auf der weiten Wasserfläche. Man hört die hastigen Atemstöße des Bootes und zuweilen das Geschrei eines suchenden Vogels. Auf den schwarzen Schlammbänken zittern die grauen, zierlichen Tamariskenbüsche im Wind. Zuweilen fällt ein Schatten auf den Eingang einer der zeltförmigen, von Fischern bewohnten Binsenhütten, wie sie schon zur Zeit Cassiodors standen.

Weit draußen, wo die Brandung auf die Düne schlägt, erklingen vom Campanile die Glocken der Kathedrale von Grado. Auch da stand der Stuhl eines Patriarchen. Er war kirchliches Oberhaupt von Seevenezien, das den ersten Dogen unter seiner Ägide erwählte. In jene Zeiten des frühen Mittelalters fiel die politische Bedeutung der Stadt, deren spätere Geschichte erfüllt war vom Gezänk der allzu nah nebeneinander wohnenden kirchlichen Amtdbrüder, und erst ihren Abschluß fand in der Trennung der Streitenden. Der Patriarch von Aquileja zod nach Cividale, der von Grado nach Venedig.

K.Jahrhundertelang blieb die zu einem armen Fischerstädtchen heruntergekommene Patriarchenresidenz vereinsamt, vom Zahn der Zeit allmählich benagt, teilweise vergessen, wie Caorle zum Beispiel, die früher bedeutende Bischofsund Hafenstadt, bis die feinsandige Küste des Golfes von Triest kraftvoller Magnet für den Fremdenverkehr wurde.

Der in einen Dornröschenschlaf versunkene Hafen wurde förmlich neu entdeckt. Bis auf die Kathedrale aus dem Jahre 454 mit einem Mosaikboden aus dem 6. Jahrhundert und Stücken im Domschatz, die noch ein Jahrhundert älter sind, ist alle Herrlichkeit der mittelalterlichen Patriarchenresidenz verschwunden.

Man sieht nichts mehr von den Palästen der Vornehmen, die den Hof des Kirchenfürsten bildeten, nichts von den festen Mauern, die der Amtsbruder von Aquileja mit seinen Söldnern oft benannte. Das alles, mitsamt den vielen Insel- klöstem, hat längst die Lagune verschlungen…

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