Babyfon - © © The Isamu Noguchi Foundation and Garden Museum, New York / Artists Rights Society [ARS]; Foto: © MAK/Georg Mayer

Jede denkbare Form möglich

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Ein außergewöhnlicher Rohstoff revolutionierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Massenproduktion von Alltagsgegenständen: Bakelit.

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Ein außergewöhnlicher Rohstoff revolutionierte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Massenproduktion von Alltagsgegenständen: Bakelit.

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Eine elegante Tischlampe an einer Gelenkstange, höhenverstellbar und komplett zusammenklappbar. Ebenso geschmackvoll designte Nähmaschinen und Ventilatoren. Radios, in die Technikkomponenten und Lautsprecher gemeinsam verbaut wurden und die durch ihre runde Form ein Hingucker sind.

Mannigfaltig waren die Formen, in die Bakelit gepresst wurde, der erste vollsynthetische Kunststoff, der industriell verwendet und nicht umsonst vom Time Magazine 1924 das „Material der 1.000 Möglichkeiten“ genannt wurde. Im Wiener Museum für Angewandte Kunst zeigt man in einer Ausstellung, die sich aus der Sammlung des 2018 verstorbenen Wiener Galeristen Georg Kargl speist, welche kulturelle Bedeutung Bakelit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte.

„Was Gusseisen für das 19. Jahrhundert war, war Bakelit für das 20.“, sagt Kurator Rainald Franz. „Es war fast unzerstörbar und ermöglichte die billige Massenproduktion von Alltagsgegenständen, begeisterte aber gleichzeitig Designer durch seine Ästhetik.“

Kostengünstiger Ersatz

Es war der belgische Chemiker Leo Hendrik Baekeland, der ab 1899 forschte, um einen kostengünstigen Ersatz für Schellack und Zelluloid als Isolationsmaterial für die Elektroindustrie zu entwickeln. Was er fand, wurde zum Material der Stunde, vor allem von den 20er bis zu den frühen 40er Jahren. Als erster industriell gefertigter Kunststoff, der zu niedrigen Kosten und einfach hergestellt wurde sowie besonders gut formbar war, revolutionierte Bakelit die Produktion dieser Zeit.

Schon bald wurde es von Designern wie Käufern auch für seine Ästhetik, die Assoziationen zu Geschwindigkeit und technologischem Fortschritt zuließ, geschätzt. Nicht wenige Wohnungen waren mit Alltagsgegenständen aus Bakelit durchgestylt, weshalb MAK-Direktor Christoph Thun-Hohenstein von einer „Neuauflage des Prinzips Gesamtkunstwerk“ spricht. Die Formenvielfalt war schier uneingeschränkt, wie die Ausstellung im MAK anhand von 300 Objekten zeigt: Thermoskannen, Fernsehgeräte, Kaffeemühlen, Fahrzeugmodelle und vieles mehr.

Besonders schön: Ein Babyfon nach dem Entwurf des Designers Isamu Noguchi, das stellvertretend für viele Objekte gelten mag, zu denen Bakelit namhafte Designer, die aus dem Kunstbereich kamen, inspirierte. Den Kopf einer Frau imitierend, ist es klar ein modernes Kunstwerk. „Bakelit konnte man schlichtweg in jede denkbare Form gießen, das war der große Vorteil neben seiner Robustheit. Durch Telefone im klassischen Design mit Wählscheibe grub sich Bakelit auch in das kollektive Gedächtnis ein“, sagt Kurator Rainald Franz.

Einzig das Färben war nicht möglich. Doch das tat dem Siegeszug dieser MaterialIkone keinen Abbruch, für Franz war es auch der „Träger des Zukunftsglaubens“ – in einer Zeit, in der Objekte aus Kunststoff noch nicht den Nimbus des Wegwerfprodukts hatten. Kodak sah sich genötigt, den Slogan „Not a toy, but a camera“ für seine neue, aus Bakelit gefertigte Kamera „Kodak Brownie“ zu erfinden, die millionenfach produziert wurde und die hochqualitative, leistbare Fotografie für jedermann ermöglichte.

Eleganz der Objekte

Ob Bügeleisen, Fön oder Jausenbox – was sich durchzieht, ist eine besondere Eleganz der Objekte, die an der Ergonomie ebenso liegt wie an der dunklen Farbe – und die auch den Galeristen Kargl faszinierte: „Er war einer der größten Experten der Wiener Moderne, stets war es ihm ein Anliegen, herausragende Design-Objekte und deren Funktion kennenzulernen“, sagt Thun-Hohenstein. Kargl habe sich schon mit Bakelit auseinandergesetzt, als es noch kein Modematerial war. „Ihn faszinierte bestimmt die Eleganz der Objekte und deren künstlerische Gestaltung. Auch die vielen Ausdrucksmöglichkeiten und Funktionen gefielen ihm.“

Bis in die frühen 40er Jahre erlebte Bakelit einen Höhenflug, dann flaute die Begeisterung ab. Mehr und mehr wurde es durch Kunststoffe auf Mineralölbasis ersetzt, heute erfüllt es – auch weil es weder abbaubar, noch recyclebar ist und weil man schlussendlich feststellte, dass Bakelit in seiner ursprünglichen Rezeptur bei der Herstellung Formaldehyd ausdampfte – nur noch eine Nischenfunktion.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Rohstoff, der zu seiner Zeit die Massenproduktion von Alltagsgegenständen revolutionierte.

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