Die Aussprache - © Universal

„Die Aussprache“: Unmenschliche Regeln im Namen Gottes

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Sarah Polleys beeindruckendes Missbrauchsdrama bleibt in Erinnerung.

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Sarah Polleys beeindruckendes Missbrauchsdrama bleibt in Erinnerung.

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Wie die Wirklichkeit erfassen, wenn für sie die Worte fehlen? „Ohne Sprache war da nur eine klaffende Stelle“, beschreibt es Oona, die Off-Erzählerin aus Sarah Polleys beeindruckendem Drama „Die Aussprache“. Jahrelang wurden die Frauen und Mädchen ihrer abgekapselten mennonitischen Gemeinde betäubt und sexuell missbraucht, die Wunden jedoch als das Werk von Geistern oder dem Teufel abgetan. Als die Täter endlich erwischt werden, setzen die Ältesten ein Ultimatum – an die Frauen: Entweder sie vergeben den Schuldigen oder sie müssen gehen.

Die Abstimmung ergibt ein Patt. Einige von ihnen ziehen sich deshalb in eine Scheune zurück, um in den verbleibenden zwei Tagen eine Entscheidung zu finden. Dabei sollen ihnen zwei weitere Menschen helfen: Weil keine von ihnen lesen oder schreiben kann, wird August, der Lehrer, gebeten, das Protokoll zu führen; die Transperson Melvin passt derweil auf die Kinder auf.

Es sind diese beiden Figuren, die den Film entscheidend erweitern und die Gewalt einer geschlossenen Gemeinschaft an allen Gendern sichtbar machen; legitimiert hier durch „Regeln, die im Namen Gottes aufgestellt wurden“.

Worte des Glaubens und das Wenige, das sie aus ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt schöpfen konnten, bilden das Vokabular der Frauen, mit dem sie ihre Emotionen und Standpunkte äußern und um einen Beschluss ringen müssen. Die Kanadierin Miriam Toews, selbst Tochter von Mennoniten und vor Jahren als Laiendarstellerin in Carlos Reygadas’ Mennoniten-Drama „Stellet Licht“ zu sehen, beschrieb ihre Buchvorlage als „Akt weiblicher Fantasie“, die sie als Antwort auf die Ereignisse in der Manitoba-Kolonie in Bolivien in den Jahren 2005–2009 verfasste.

Als Drehbuch ist diese Konversation ein erschütterndes, respektvolles, wenn nötig, aber auch hitziges Kammerstück, das Polley in fahlen, sich fast widerwillig zeigenden Farben und mithilfe eines großartigen Ensembles umsetzt. Vieles an „Die Aussprache“ bleibt in Erinnerung: die Schuld darin. Die Angst. Auch die Hoffnung. Vor allem aber die Empathie, die wir oft so schmerzlich missen lassen.

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