Rüstiger Endneunziger

Werbung
Werbung
Werbung

Der 16. Wiener Gemeindebezirk ist sicher Österreichs bekanntester kultureller Schmelztiegel. Dass sich dort so gut wie alles verändert hat, seit er Ecke Brunnengasse/Grundsteingasse wohnte, weiß auch ein ganz spezieller Besucher. "Somebody's speaking Ottakringerisch! That's a rarity", entfährt es ihm, als er aus dem Gewusel den alten Dialekt heraus hört. Die ihm gewidmete Dokumentation nennt sich "Das erste Jahrhundert des Walter Arlen", und es sind Momente wie dieser, wenn die in den Titel verpackte Hoffnung überspringt. Eine verschmitzte, romantische, aber auch eine reale, auf das immaterielle Fortdauern eines Lebens.

Jenes von Walter Arlen begann am 21. Juli 1920, als Spross der Familie, die das bekannte Warenhaus Dichter besaß - bis zu seiner Arisierung lediglich vier Tage nach der Annexion durch Hitler-Deutschland. Vor genau 80 Jahren, am 14. März 1939, gelang es Arlen zu emigrieren. Er fasste in den USA Fuß, wurde Musikkritiker bei der Los Angeles Times und blieb es vier Jahrzehnte lang. Erst danach, und auch nur, weil sein Lebensgefährte Howard Myers nachhalf, wurde bekannt, dass er selbst Musik schrieb: Er entpuppte sich als "die Quintessenz des Exil-Komponisten", wie es in Stephanus Domanigs Arbeit einmal heißt. Im Angesicht einer "filmischen Gefahr in Verzug", die am Adhoc-Charakter der Kamera zu merken ist, folgt der Regisseur dem rüstigen Endneunziger durch den Alltag und bei Besichtigungen, besucht Orchester mit, die seine Stücke einstudieren, oder die Gala-Aufführung zu seinen Ehren im Wiener Konzerthaus. Staatliche Versöhnungsgeste miteingeschlossen: "Willkommen zu Hause" - die Floskel fällt auch hier.

Wichtiger ist im Zusammenhang aber ein Satz von Robert Fürstenthal, dessen Exil-Schicksal starke Parallelen aufweist: "Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien." Ähnlich verhält es sich mit Walter Arlen, aus dem die Erinnerungen sprudeln, zur Jugend, zur Verfolgung; zu Beruflichem wie dem Abgabestress bei der Zeitung. Schaffen, Gedanken und Film fließen bedacht ineinander, etwa rund um sein Stück "Die letzte Blaue", was nicht nur zurück zur Donau führt, sondern auch zur Lampe an der letzten Straßenbahn vor Betriebsschluss -"Seine Geschichte sitzt auf ihm, als ob sie letzte Woche passiert wäre."

Diesem unmittelbaren Eindruck der Emigration versucht Domanig etwas aus seiner Generation hinzustellen: Er organisiert ein Abendessen u. a. mit seiner einstigen Filmakademie-Studienkollegin Nina Kusturica, die vor dem Bosnienkrieg nach Österreich flüchtete. Selten begnügt er sich damit, klassische Interviews einzubauen, lässt lieber miteinander sprechen als Schlüsse vorzufertigen, oder hofft auf Anekdoten, etwa beim Kaffeeplausch vor der Staatsoper neben dem Denkmal für Arnold Schönberg.

Dass sich "Das erste Jahrhundert des Walter Arlen" gegen Schluss außerdem zum hinreißenden Porträt eines alten Pärchens entwickelt, steigert die Faszination nur noch. Dem einen oder anderen etwas steifen Moment zwischendurch kann Domanig dies entgegensetzen, oder wahlweise eine der lebendigen Erinnerungen Walter Arlens. Oder dessen Gang ins Fitnessstudio, um mit ein paar Gewichten am zweiten Jahrhundert zu arbeiten.

Das erste Jahrhundert des Walter Arlen A 2018. Regie: Stephanus Domanig. filmdelights. 91 Min.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung