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Alpträume, Attacken, Liebeserklärungen

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Es müsse, könnte man auf den ersten Blick meinen, mindestens vier Künstler geben, die ihre Zeichnungen, Cartoons, Illustrationen und Bücher unter dem gemeinsamen Namen Tomi Ungerer veröffentlichen. Einer ist besser als der andere, deshalb sind sie offenbar nicht eifersüchtig aufeinander. Vielleicht handelt es sich um zweieiige Vierlinge. Wahrscheinlich lachen sie sich beim Gedanken schief, daß die Welt ihnen hereinfällt und sie tatsächlich für eine Person hält. Denn daß der Humanist Ungerer, der ungemein freundliche Märchenonkel Ungerer, der laszive Ungerer und der Alptraum-Ungerer ein und dieselbe Person sind, das glaube, wer will.

Allerdings haben sie einiges gemeinsam. Vor allem die Radikalität, mit der sie sowohl ihre Inhalte wie ihre formalen Ideen ins Extrem treiben und nicht haltmachen, bevor die Aussage ihre äußerste Schärfe erreicht hat. Das gilt für die politischen Blätter, für die erotomanen Alpträume und selbst für die, noch am ehesten, heile Welt der Tiere. Ungerers Welt der Kinder hingegen ist selten heil (außer, wenn er Märchen für Kinder illustriert), die Kinder tun offen, was angepaßte Erwachsene tun möchten und nur dann wirklich tun wenn ihnen der Krieg oder die Uniform die Möglichkeit dazu geben. Wenn die lieben Kleinen Fische braten, ent nehmen sie diese direkt dem Aquarium, und wenn Junge Mädchen quält, tut er es mit derselben Hingegebenheit, mit der zwei uniformierte Knochenmänner, ins entpersönlichte Endstadium getriebene Personifikationen der mit Opfer irgendeinen modernen Schwedentrunk einflößen.

Man kann also doch nicht ausschließen, daß es die scheinbar so verschiedenen Künstler namens Ungerer irgendwie schaffen, in einem menschlichen Körper miteinander auszukommen. Wenn sie ausstellen oder sich auf der Buchmesse zeigen, tritt ja auch immer derselbe Herr in Erscheinung und erklärt, der wahre Tomi Ungerer zu sein. Demnach wurden die vier 1931 im Elsaß geboren und zählen zu ihren Vorfahren ausschließlich Uhrmacher, daher die technische Präzision der Zeichnungen, sowie Industrielle. Letzteres Erbteil könnte der Grund dafür sein, daß sie es schaffen, für ihre Bilder sogar Geld zu kriegen, obwohl viele davon so engagiert sind, daß sie jenen, welche die Originale kaufen, eigentlich auf die Nerven gehen müßten. Denn Tomi Ungerer ist nicht nur „sozialkritisch”, er geht aufs Ganze, sprich: den Dingen auf den untersten Grund.

Seine Kunst ist sehr oft gefällig, einnehmend, aber niemals beiläufig oder angepaßt. Der Soldat im Schilderhaus, das die Form eines Sarges hat, kann den Angepaßten eigentlich genauso wenig gefallen wie die Skelette, die zwischen Ruinen unter Bombern Skelette beweinen oder der Soldat auf allen Vieren an der Hundeleine, der nur mit Handgranaten und Maschinenpistole bekleidet ist. Black Power/White Power heißt ein Unge-rer-Plakat, auf dem ein Schwarzer und ein Weißer, angeordnet wie die Figuren auf den Spielkarten, einander fressen.

Ein neues Ungerer-Buch zieht das Resümee aus vier Jahrzehnten und einem vorläufigen Lebenswerk von

„Tomi Ungerer: Das Spiel ist aus -Werkschau 1956 - 1995”. Alle Facetten Ungerers kommen darin auf beeindruckende Weise zu ihrem Recht. Das Bildmaterial ist umfassend, der Druck exzellent, die Texte sind informativ und klug. Wer Ungerer schätzt, wird diesen Band bald nicht mehr vermissen wollen. Mancher wird vielleicht nachts allein nicht alle Bilder sehen wollen.

Der frühe Verlust des Vaters und der Krieg waren die frühen prägenden Einflüsse Tomi Ungerers. Der Mann, der einer bibliophilen, kunst- und musikliebenden Familie entstammt und äußerlich so in sich ruhend wirkt, hat offenbar in sich auch einen Orkan, der Alpträume ausspeit. Vieles ist gar nicht komisch, etwa „Das Insekt”, eine Heuschrecke mit Busen, schwarzen Strümpfen und Stöckelschuhen, und manches grenzt ans Unerträgliche wie einige der frühen Arbeiten von Alfred Kubin. Manches wirkt durchdacht, verarbeitet, in Kunst umgesetzt, freilich immer noch bedrängend, etwa der tote Rabe unter dem Schriftzug „Pollution!” - oder das gezeichnete Selbstbildnis mit Tod, auf dem Ungerer dem Knochenmann forschend ins hohle Auge blickt. Anderes wiederum ist unvermittelter, brutal auf den Reschauer einschlagender Alptraum. Etwa das Bild der beiden Männer, die einander Bohrer aufs Auge setzen.

Der Weltbürger Ungerer, der in den USA, in Deutschland, Kanada und Irland teils zuhause war, teils zuhause ist, zählte immer schon zu den Künstchen. Doch einige der bedrückendsten Blätter stammen aus dem Jahr 1995. Der Frosch auf Krücken. Das Zuchthuhn mit den menschlichen Extremitäten. „Mehr Licht!” - die helleuchtende Glühbirne als Totenkopf. „Vogelfütterung morgen”: Ein Vogelskelett steckt den Gerippen der lieben Kleinen Schrauben in die Schnäbel. Oder das Einbandbild, es heißt „Zukunft”: Die Kinder im Vordergrund sind offensichtlich vom freundlichen Ungerer, das grausliche Pipeline-Labyrinth, in das sie starren, eben die Zukunft, vom Alptraum-Ungerer.

Daneben aber Zeichnungen wie die der „Sandpipers”, kleiner, mit sparsamen Bleistiftstrichen hingeworfener Vögelchen, die den Strand entlanglaufen, jedes Tier mit eigener dualität, oder der Mann, der mit dem Regenbogen einen Pfeil in den Himmel schießt. Viele Ungerer-Bilder können nur als Ausdruck eines starken Harmoniestrebens gedeutet werden. So brutal der engagierte Ungerer die Kriegsopfer sterben läßt, so grauenhafte Fallen und Verliese der Alptraum-Ungerer für die Opfer seiner dämonischen Welten erfindet, so genüßlich der laszive Ungerer den Teufel mit seinem Dreizack ein nacktes Liebespaar quer durch seine edelsten Teile aufspießen läßt - so hell und freundlich ist die Welt des Märchenonkels Ungerer.

Ungerer kann nicht nur das Gemütliche gemütlich und das Ungemütliche ungemütlich, er kann auch das Gemütliche höchst ungemütlich und das Ungemütliche sehr gemütlich darstellen. Er ist einer der ganz großen Meister des Zeichenstifts in unserer Zeit. Die Bilder sind demnächst im Berliner Haus am Lüt-zowplatz auch in natura zu sehen (14. April-27. Mai 1996).

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