Bildpanoramen surrealer Melancholie

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Tier - Mensch - Stadt. Das ist die Formel hinter Shaun Tans neuem Kurzgeschichtenband. In einem Interview gibt der australische Illustrator Einblick in die Herangehensweise an diesen über 280 Seiten fassenden Band, der sich im Umfang deutlich abhebt von den Bilderbuchformaten, die ihn in den letzten Jahren zu einem der bekanntesten Künstler am internationalen Kinderbuchmarkt gemacht haben: "Die grundlegende Prämisse, die ich mir selbst stellte, war sehr einfach: Denk an ein Tier in einer Stadt [ ] Warum ist es dort? Wie reagieren die Menschen auf das Tier?"

Die Reaktionen der Figuren in den Erzählungen können bei der Lektüre der 25 surrealen Kurzgeschichten, die manchmal aus nur einem Absatz bestehen, sich teilweise aber über mehrere Seiten ausbreiten, unmittelbar nachvollzogen werden, da Tan auf eine einfache wie wirkungsvolle Erzählform in Text und Bild setzt: Zunächst wird dank Eike Schönfelds gelungener Übersetzung ein ambivalentes Stimmungsbild ohne Illustration aufgebaut, das das Erscheinen, die Deplatziertheit oder etwa die Schönheit eines Tieres im urbanen Raum poetisiert. Beim Lesen entstehen Bilder im Kopf und eine Erwartungshaltung in Bezug darauf, wie die Situation in Shaun Tans abfallend gestalteten, doppelseitigen Ölbildern aufgelöst werden könnte.

"Die Öffentlichkeit nannte sie anstößig. Politiker nannten sie inakzeptabel. Religionsführer nannten sie unheilig. Sogar Naturforscher nannten sie unnatürlich. Sie kamen trotzdem, wie ein kühler Wind, der in einer heißen, unruhigen Nacht weht, die Riesenschnecken, [ ]." Man blättert um und sieht zwei riesige Weinbergschnecken über einer grün-bläulich schimmernden Fußgängerunterführung, in der ein Straßenmusiker Gitarre spielt; die Fühler der sich umschlingenden Tiere werden vom Licht der Straßenbeleuchtung in strahlende Orangetöne getaucht; eine Stadtlandschaft wird schemenhaft sowie abgedunkelt am Rand des Bildes angedeutet; vereinzelte Ampellichter verweisen auf das urbane Setting, das sich wie ein roter Faden durch die Illustrationen zieht und sich kunstvoll über die Doppelseiten hinweg ausbreitet, sodass man jede einzelne rahmen und an die Wand hängen möchte. Shaun Tan kombiniert surreale Momente, die er in "Die Regeln des Sommers" spielerisch erprobte, beeindruckende Bildpanoramen, die schon in "Ein neues Land" für Aufsehen sorgten, eine raffinierte Erzählform, die dem Bilderbuch und animierten Kurzfilm "Die Fundsache" einen Oscar bescherte, und eine ergreifende Melancholie, die uns wie in "Der rote Baum" nachhaltig nachdenklich werden lässt.

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