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Familienszenarien: Das Debüt von Melanie Arns.

Bittere Weihnachts-Antiidyllen mit heuchlerischem Familientheater waren in den 1970er Jahren stark en vogue. Melanie Arns hat eine solche in heutiger Jugendsprache geschrieben, was auch damit zusammenhängen mag, dass sie vom Niederrhein kommt - einem Winkel Deutschlands, wo für Heinrich Böll selbst noch die Kohlköpfe katholisch waren. Die Rollen in diesem Familien-Theater, das an Sonntagen, beim Einkaufen oder eben zu Weihnachten besonders intensiv gespielt wird, sind klar: "Vater hört nicht auf zu nörgeln. Mutter hört nicht auf, sich zu entschuldigen. Oma hört nicht auf zu sterben. Ich fang erst gar nicht an."

Hinter den bösen Pointen werden grell die Verletzungen sichtbar, physisch und psychisch: Die Erzählerin hat bei einem Unfall ihr Auge verloren und muss mit einem Glasauge leben, sie fügt sich selbst Verletzungen am Arm zu, sie hat Bulemie, sie leidet nicht nur am Alkoholismus der Eltern - das Weihnachtsfest kulminiert in Missbrauchsvorwürfen an den Vater.

Tempo, Kürze und Prägnanz prägen diesen Prosaband, die jugendliche Welt ist hochgradig authentisch wiedergegeben: die Angst vor dem ersten Geschlechtsverkehr und die Lässigkeit, mit der sie überspielt wird, ("Hast du schon mal?" - "Na klar, was denkst du denn!") der Zwang, sich auf der Party wohl zu fühlen und die Phrasen, mit denen das simuliert wird. Und der gesungene Wunsch "I wish I was special ..." Manches ist unverhüllt autobiografisch.

Konterkariert wird das freilich durch ein Spiel mit schockierenden Tatsachen, die dann widerrufen werden, zum Beispiel dass die Erzählerin Aids habe. Das generiert die F rage: Gehört auch der Missbrauchsvorwurf zu diesem Spiel? Szenen, die man schon gelesen oder in trivialen Filmen gesehen hat, blitzen auf. Es ist wohl gerade dieses ungeklärte Changieren zwischen authentischem Material (bis in dialektale Wendungen) und Versatzstücken, die auch die Jury beim Bachmannpreis sehr kontrovers über dieses Buch diskutieren ließen. Denn eines ist klar: Hier ist eine junge Autorin (Jahrgang 1980) angetreten, die Talent und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig auch etwas gelernt hat. Von ihr darf man noch mehr erwarten als diesen ersten Wurf.

Heul doch!

Von Melanie Arns.

Jung und Jung Verlag, Salzburg 2004, 106 Seiten, geb., e 16,-

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