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Duncan Shiels erzählt eine außergewöhnliche ungarische Familiengeschichte.

Verrat war die schillerndste politische Kategorie des letzten Jahrhunderts, so häufig gebraucht wie missbraucht. Einer dafür kennzeichnenden, gleichwohl beispiellosen Beziehung unter Brüdern mit unterschiedlicher politischer Blickrichtung, die sich nicht dem Verrat hingaben, spürte der britische Publizist Duncan Shiels in einem „europäischen Familiendrama“ nach.

Auf dem Höhepunkt des spektakulären Geschehens um die aus Siebenbürgen stammende Großfamilie Rájk rettete kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst Endre Rájk, damals Staatssekretär in der ungarischen Pfeilkreuzlerregierung des Faschisten Ferenc Szálasi, seinem wegen Landesverrats in einem Zuchthaus nahe Sopron dem sicheren Todesurteil ausgelieferten kommunistischen Bruder László Rájk durch sein überraschendes Auftreten vor dem Militärtribunal als Entlastungszeuge das Leben.

Als sich das weltgeschichtliche Blatt mit Kriegsende gewendet hatte, war dieser László Rájk 1946 mit einem Mal Innenminister – und sein faschistischer Bruder Endre wartete im Salzburger Internierungslager Glasenbach auf seine Auslieferung nach Ungarn, wo ihn die Hinrichtung als Kriegsverbrecher erwartete. László Rájk nutzte seine herausragende Stellung in der KP-Führung als hochverdienter Spanienkämpfer und als – im Gegensatz zu den aus Moskau zurückgekehrten Genossen unter Mátyás Rákosi – im Volk populärer Anführer des kommunistischen Widerstands gegen die Nazis dazu, seinen Bruder als minderbelastet vor der Auslieferung an Ungarn zu bewahren. Innerhalb von nur 18 Monaten war unter den zwei Brüdern Rájk eine wechselseitige Lebensrettungsaktion erfolgreich verlaufen.

Gelogenes Geständnis

Indes, für den unvermittelt zu Ministerehren aufgestiegenen László Rájk war das Drama mitnichten zu Ende. „Angeklagt der Verbrechen der Bildung einer Organisation zum Umsturz der demokratischen Staatsordnung und der Volksverhetzung“, lauteten wie zum Hohn die auf Befehl von Rájks innerparteilichem Rivalen, dem stalinistischen Parteichef Mátyás Rákosi 1949 fingierten Vorwürfe eines Tribunals, bei dem sich László Rájk, durch fortgesetzte Folterungen und lebensgefährliche Drohungen gegen seine Familie gefügig gemacht, gegen die Zusage späterer Freilassung in allen Anklagepunkten schuldig bekannte.

Im September 1949 saß der nach Deutschland entwichene Endre Rájk ohnmächtig am „Radio Free Europe“ und verstand, ebenso wie die ganze Familie bei der Direktübertragung im ungarischen Rundfunk, des Angeklagten versteckte Botschaft zu Beginn des Schauprozesses, als dieser, unbemerkt vom Protokollführer, bei der Angabe seines Geburtsmonats „Mai“ statt „März“ ins Mikrophon sagte: Signal für die Eingeweihten, dass im Folgenden nichts als Lügen zu erwarten seien. Diese Lügen bestanden aus einem auswendig gelernten „Geständnis“, doch statt der versprochenen Abschiebung samt Familie ins Exil vollstreckte Ungarns totalitäres KP-Regime am Morgen des 15. Oktober 1949 an László Rájk die Todesstrafe.

Vorwurf des Verrats

Mit dem fingierten Vorwurf des Verrats hatten seine ehemaligen Partei- und Weggefährten, darunter der spätere KP-Diktator János Kádár, der Taufpate von Rájks einzigem Sohn, ihren eigenen Verrat begründet. Erst in der Todesstunde, unter dem Galgen, erkannte der Idealist László Rájk den heimtückischen Betrug: Mit lauten Schreien klagte er seine Henker an, die Sache sei anders vereinbart gewesen.

In den folgenden Jahren versank Ungarn in Terror, Willkür und einer Orgie paranoider „Säuberungen“, wovon zuvörderst die weit über Ungarn verbreitete Familie Rájk den konzentrierten Schrecken zu spüren bekam. Denn der Clan der Rájks bestand nicht nur aus Endre und seinem zehn Jahre jüngeren Bruder László, deren politische Positionen einander so diametral entgegenstanden. Acht Söhne und drei Töchter waren zwischen 1899 und 1913 dem von einem österreichischen Offizier namens Reich abstammenden Schuster József Rájk geboren worden, der seinen Namen magyarisiert und einen gutgehenden Familienbetrieb im siebenbürgischen Szeklerland geführt hatte. Die vier ältesten Brüder Rájk nahmen als Angehörige der österreichisch-ungarischen Armee am Ersten Weltkrieg teil. 1918 fiel Siebenbürgen und damit auch das mehrheitlich ungarischsprachige Szeklerland an Rumänien. Die nationalstolze Familie Rájk litt politisch und ökonomisch enorm unter der rigiden Unterdrückung durch die neuen Herren. Diese Erfahrungen von Ächtung und Verarmung begründeten nach Ansicht des kundigen Familienporträtisten Duncan Shiels sowohl die extreme Politisierung zweier wie den engen Familiensinn aller Rájk-Brüder. Die meisten von ihnen studierten, sammelten Auslandserfahrungen und bewährten sich als Verleger, Arzt, Bankier oder Elektroingenieur. Nach dem Fanal an Lászlo Rájk verfielen sie, ebenso wie die Familien ihrer drei Schwestern, einer gnadenlosen Sippenhaftung, verloren Anstellung, Ansehen und den Gutteil ihrer Bürgerrechte.

Posthume Rehabilitation

Die schreckenerregendste Zeit unter dem Despoten Rákosi wurde 1953, nach Stalins Tod, unter Imre Nagy nur vorübergehend unterbrochen. Nach dem Abzug der Roten Armee aus Österreich musste Rákosi Abbitte leisten: Auf einer Parteiversammlung im Mai 1956 erklärte er, der Rájk-Prozess habe auf Fälschungen beruht, wofür nicht nur er, sondern das ganze Zentralkomitee die Schuld trügen. Das war abermals gelogen, war doch er der Alleinschuldige. Indes, die Rehabilitation László Rájks ließ sich nicht länger aufhalten. Mit der posthumen Unschuldserklärung für ihren Mann in Händen enthüllte Júlia Rájk, die schon im antifaschistischen Widerstand an seiner Seite gekämpft hatte, in einer öffentlichen Versammlung furchtlos die Wahrheit: „Mein Kind war vier Monate alt, ich stillte es noch, als ich zusammen mit meinem Mann geholt wurde. Als ich es wiedersah, war mein Kind fünfeinhalb Jahre alt. Weder Briefe noch Besuch, noch Kleidung und Nahrungsmittel erreichten mich während dieser Zeit im Gefängnis. Ich hungerte, während die Genossen irregeführt wurden, während es hieß, wir seien Spione, Verschwörer, Verräter.“

Die Beisetzung László Rájks, zu der sich hunderttausend Ungarn am Budapester Zentralfriedhof eingefunden hatten, wurde zum Auftakt der nationalen Volkserhebung vom Oktober 1956. Nach deren Niederschlagung deportierte man Júlia Rájk und ihr Söhnchen László nach Rumänien. Erst drei Jahre später durften sie nach Ungarn zurück.

Bei der Umwälzung der politischen Verhältnisse 1989 spielte der Fundamentaloppositionelle László Rájk jun. eine bedeutende Rolle. Heute sitzt er als Abgeordneter für den Bund Freier Demokraten im ungarischen Parlament. Duncan Shiels, der mit Rájk jun. befreundet war, starb 2006 53-jährig in England, ein Jahr bevor diese außergewöhnliche Familienhistorie in Ungarn viel publizistisches Aufsehen erlangte. Der langjährige Büroleiter der Agentur Reuters in Budapest hatte einst, im Herbst 1989, den Text für den als Ohrwurm höchst wirksamen Freiheitssong der ungarischen Pop-Gruppe „East“ gedichtet, der damals die internationalen Charts stürmte. Sein Titel lautete: „Wind of Change“.

DIE BRÜDER RAJK

Ein europäisches Familiendrama

Von Duncan Shiels

Aus dem Engl. von Klaus Binder. Mit einem Vorwort von György Konrád und einem Nachwort von László Rájk jun.

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008

350 Seiten, geb., € 25,60

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