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Das Jo-Jo

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Ein trüber Jännenmittag. Ich ging allein von der Schule nach Hause, die Straßen waren fast leer. Wir waren wieder auf dem Kinderfriedhof gewesen, die Tochter des Pferdemetzgers und ich, auf unserem geheimen Spielplatz, und hatten von den kleinen Tannenbäumchen auf den Gräbern den Schnee geschüttelt, daß sie wieder grün vor den weinenden Engeln standen, die Weihnachtsbäume für die Toten...

So hatte ich mich verspätet, und weil niemand in der Nähe war, zog ich mein neues Jo-Jo aus der Tasche und ließ es auf und ab tanzen, während ich dahdnging... mein schönes, neues Jo-Jo: zwei Holzscheiben, wie eine Spule miteinander verbunden, eine Scheibe rot, eine grün, und dazwischen (noch weiß und glatt) die Schnur; wenn man den Arm hob, spulte sich die dünne Schnur ab, deren Anfang man zwischen den Fingern hielt, das Jo-Jo schwebte nach unten, und wenn man den Arm senkte, spulte sich die Schnur auf und das Jo-Jo kam zur Hand zurück. Man konnte glauben, ein lebendes Wesen bei sich zu haben, so folgsam schmiegte es sich in die Handfläche, ein lebendes Wesen, das man freiließ und fing, dem man scheinbare Freiheit gab, um es schnell wieder zurückzuholen.

Ich kam zum Stadtplatz, er war menschenleer. Da begann ich zu laufen, und das Jo-Jo an meiner Seite ging immer schneller auf und ab. Im selben Augenblick, in dem ich das Katzenkopfpflaster betrat und meine Künste dadurch zu steigern gedachte, daß ich, jeweils einen Stein überspringend,

das Jo-Jo bei einem Sprung auslassen, beim nächsten wieder einziehen wollte, in diesem Augenblick sah ich ihn: die dunkle, kleine Gestalt mit dem Spazierstock, auf der anderen Seite des Stadtplatzes gerade an jener Stelle stehend, an der ich Vorbeigehen mußte, an der Stelle, wo sich der Stadtplatz ednsdmürte und die schmale Straße begann, von der man sagte, daß sie der „Hau den Lukas“ (das war der dickste Mann unserer Stadt, der mit seinem „Hau den Lukas“' von Volksfest zu Volksfest zog) mit der Breite seiner Schultern verstopfen könne. Und an dieser Stelle, an der ich Vorbeigehen mußte, um nach Hause zu kommen, stand, unbeweglich an seinen Stock gelehnt, diese unheimliche Gestalt, die wir alle fürchteten, vor der wir flüchteten, wenn wir sie sahen, in einen Hauseingang, in ein Geschäft, und wenn kein Fluchtweg offen war, drückten wir uns mit geschlossenen Beinen eng an die Wand. Mit dem runden Griff seines Stocks, so hieß es, würde er nach den Beinen der Mädchen angeln.

Und nun stand er da, auf seinen Stock gestützt, noch durch die Breite des Stadtplatzes von mir getrennt, doch auf dem Weg, den ich nehmen mußte, die Begegnung war unvermeidlich ... er schnitt mich ab von dem runden Tisch mit dem weißen Tischtuch, auf dem noch Krümel lagen, denn meine Eltern hatten sicher schon gegessen, und mein Teller wurde kalt, das warme Zimmer im Lichtkreis der Lampe schrumpfte zusammen, ich hatte manchmal verkehrt durch das Fernglas meines Vaters gesehen, so war es jetzt, das Vertraute weit weg, fremde Welt, fremde Landschaft... immer näher aber die dunkle, unbewegliche Gestalt, auf die es mich zutrug.

In der Stille des Mittags hörte ich die eigenen Schritte wie die einer Fremden, meine Hand, die das Jo-Jo umklammert hielt, wurde feucht. Immer näher trug es mich auf das Unentrinnbare zu. Die ersten Häuser, das Schaufenstereck... er, einige Schritte von mir entfernt, unbeweglich auf seinen Stock gestützt — Da sprang ich vor und wußte nicht mehr bin ich es — dicht vor ihn hin und streckte ihm den Arm mit dem Jo-Jo entgegen —, sah Bartstoppel, große schwarze Nasenlöcher mit langen Haaren, an denen schwarzes Pulver hing, ein Kinn, das sich in den Mund zog, nahm es wahr, ohne zu atmen und stieß schließlich heraus:

„Magst mein Jo-Jo?“

Er hob vorsichtig den linken Handrücken zu seinen Nasen- löchern, doch bevor er das schwarze Pulver aufschnupfte, sagte er:

„Naaa...", und ich rannte davon, mein Jo-Jo fest in der Hand. Ich rannte durch die enge Gasse und ließ mein Jo-Jo tanzen, alles war nah und vertraut und ich drückte so lange auf den Klingelknopf unserer Haustüre, bis unsere Maria mir schimpfend öffnete, und ich hörte sie noch vor sich hinschimpfen, als ich in meinem Zimmer Schultasche und Mantel längst auf den Stuhl geworfen hatte.

Das Jo-Jo aber legte ich auf mein Bett. Und jetzt sah ich, daß die Innenfläche meiner rechten Hand rot und grün gefleckt war; das Jo-Jo hatte abgefärbt. — Und den Nachmittag über bis zum Schlafengehen verbarg ich die rechte Hand, damit ich sie nicht waschen mußte; als es endlich soweit war und ich im Bett lag, drückte ich meine Wange in die gefleckte Handwölbung, und da schien mir, als ob ich das Jo-Jo auch dann noch besitzen würde, wenn er „ja“ gesagt und es genommen hätte (so wie ich es heute noch besitze, obwohl ich es längst nicht mehr habe...).

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