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Die Welt als Wahn

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In seinem Sonderabonnement hat Leon Epp im Volkstheater das Schauspiel „Der Balkon“ von Jean Genet herausgebracht. Seit seiner Entstehung, 1955, haben die Hauptstädte des Westens dieses Stück gesehen. Wir besitzen in unserer Bühnenwelt keine Kategorie, um dieses Werk mit einem Namen zu charakterisieren. Grausamkeit und Traum, Obszönität und Verbrechen, Poesie und Magie, Brutalität und Intellektualität, politische Satire und Romantik sind da gemischt. Der Autor, der Dichter Jean Genet, dreizehnmal im Zuchthaus, aus fünf Staaten ausgewiesen, zu lebenslangem Kerker verurteilt, hat 1942 im Gefängnis zu schreiben begonnen. 1948 ist er auf die Intervention führender französischer Künstler und Autoren hin begnadigt worden. Von hier aus, von seinem Leben, ist die Aggressivität zu verstehen, die in seinem Werk explodiert. Genet sieht die heutige Gesellschaft im Banne von Narren, von unfähigen Schwächlingen, die sich die Macht erträumen, erspielen wollen. Diese Welt, so meint er, wird von einem Bordell aus regiert. Mittelalterliche und barocke Sittenprediger waren derselben Meinung und schrien, in offenster Sprache, dies in alle Welt hinaus. Bei Genet kommt hinzu, daß er die heutige gesellschaftliche Realität als eine Aggression nicht nur nach außen, wider die Mitmenschen, sondern vor allem nach innen erfährt: alles ist da Verletzung in ihm, ist offene Wunde.

Leon Epp hat sich sehr bemüht, diese Parabel nicht sexualistisch auszulegen, was nicht leicht ist, zumal in einzelnen Szenen nicht. Die Masken der Dirnen lassen diese als Traumsymbole, Allegorien des Wahnes erscheinen. Der Kothurn, auf den der Autor auch ganz materiell die Schausteller des Wahnes stellt, macht nochmals auf den gleichnishaften Charakter dieser travestierenden Poesie aufmerksam. Durch alle Poren, alle Lücken der Dichtung schießt aber das Eiterwasser; Wut, Trauer, Schmerz, Empörung des explodierenden Mannes Genet. Hubert A r a t y m s Bühnenbilder und Kostüme unterstreichen das Groteske, Barockistische (mit Recht letzteres: es ist etwas von der Grottenbahn des Wiener Praters, von der Hölle dekadenter Barockwelt in dieser Auffassung des Werkes; mediterran sieht es wohl anders aus).

Die Darstellung: Die Hauptrolle hat, in jeder Hinsicht, Elisabeth Epp als Kuppelmutter und Königin der Revolution. Von den „Dirnen“ sind Paola Loew und Helmi Mareich zu nennen. Von den „Herren": Heinrich Trimbur, Emst Meister, Joseph Hendrichs. Dies allein ist bereits grauenhaft: diese unsägliche Schwäche des Mannes. Die Revolution ist durch Aladar Kunrad, Elisabeth Hitzenberger und Julia Gschnitzter vertreten. Betreten verläßt das Publikum das Theater; ermüdet, nicht skandalisiert.

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