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Dramaturgie des Telephons

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Unserem technischen Zeitalter entsprechend, spielt das Telephon in Theater und Film immer größere Rollen. Wie schwer war es einst zu begründen, warum eine Person auf die Bühne trat

— heute ruft sie per Telephon an, meinetwegen aus Australienijujd karra.se jlieijHapdlung vorwärtstreiben.. Durch das Telephon- steht die ganze Menschheit zum Mitspielen bereit.

Ein Bahnbrecher des dramatischen Telephons war Max Reinhardt, welcher dadurch „moderne Atmosphäre“ schuf, daß er einen Jemand bei aufgehendem Vorhang und abgedunkelter Bühne ins Telephon sieben Minuten lang „Ja — ja — ja

— ja...“ sagen ließ. Das Berliner Publikum erschauerte ... Ja, so war es, das Leben! Übrigens trägt das Telephon auch zur Dramatik des wirklichen Lebens bei, denn einer der ältesten Tricks, die Leser zu interessieren, besteht darin, daß man die Frage aufwirft, wer länger tele-phoniert, die Männer oder die Frauen ... Ungefähr zehn Tage lang schneit es wilderregte Zuschriften, doch wirklich entschieden ist die Sache immer noch nicht.

Eine wichtige Filmrolle spielt das Telephon als Verräter. Wenn nämlich die Gangster oder die Falschmünzer wissen wollen, ob das neue Mitglied zuverlässig ist, bespitzeln sie den Mann, ob er nicht in die nächste Telephonzelle geht, um sie zu verpfeifen . .. Oft findet man deshalb (jedenfalls laut dem Kino) telephonierende Leichen in den Telephonzellen von Chikago. Eine gefährliche Rolle spielt das Telephon auch als Instrument der Erpressung: der Blackmailer trifft kühl Anstalten, die Sache der Polizei mitzuteilen, und beginnt bereits, deren Nummer zu wählen ... Gerade dieser Augenblick wirkt so erschütternd, daß sofort gezahlt wird.

Das Telephon ist auch prächtig geeignet, die Doppelzüngigkeit eines Menschen darzustellen: er deckt die Muschel mit der Hand ab, sobald er Worte des Verrates dazwischenspricht. Wenn aber der Kidnapper, der den Knaben entführt hat, bei dessen Eltern anruft, so spannt er das Taschentuch über die Muschel, damit man seine Stimme nicht identifizieren kann, was ein wenig an gestopfte Trompete erinnert. Auch wird bei Liebesdialogen die Muschel bisweilen vom weiblichen Teil geküßt, von Männern dagegen nie. Überhaupt gibt es eine Gattung von B-Filmen, die eigentlich nur noch aus Telephonieren und Den-Revolver-Vorhalten bestehen.

Sehr dramatisch wirkt das Telephon als Retter. Der halb zu Tode Geprügelte und Gefesselte robbt sich mit unsäglicher Mühe ans Telephon heran, wirft den Hörer mit dem Kinn auf den Fußboden herunter, faßt sodann einen Bleistift mit den Zähnen, „wählt“ mit ihm auf der Scheibe die Überfallsnummer und spricht dann,mit der Wange auf dem Fußboden, in die Muschel. Deshalb reißt der furchtbare Gangster als erstes das Telephon heraus, um alle Hilfsmöglichkeiten abzuschneiden.

Der reiche Mann aber hat auf seinem Schreib einen Hörkasten, den er anknipst, um roitf seiner Sekretärin zu sprechen. In dramatischen Momenten bedient er sich zweier Telephone auf einmal, worin eben seine Millionärsfähigkeit besteht. Auch weiß er, wie man mit einem Dreiminutengespräch achtzigtausend Dollar verdient. (Wir wissen es nicht.) Der äußerste Luxus jedoch besteht darin, daß der Lakai den Telephonapparat wie eine Art deliziöses Hörgerät an den Speisetisch bringt und dort diskret einstöpselt.

Doch dieses eigentlich unschuldige Telephon kann im Nu die entsetzlichste Gefahr bedeuten: wenn man etwas hineinmontiert hat, daß es nun als Abhörgerät der Polizei beziehungsweise der Gangster wirkt. Darum kam es im Film, doch öfter noch in der Naziwirklichkeit, vor, daß man im Hotelzimmer als erstes das Telephon mit einer Wolldecke umwickelte. — Dem Umstand, daß die Telephonierenden einander nicht sehen, lassen sich hochdramatische Wirkungen abgewinnen, zum Beispiel wenn einer mit dem Revolver im Nacken gezwungen wird, jemand freundlich herzubitten. Eben darum wird der perfekte Stimmenimitator vom Telephon unwiderstehlich angezogen, weil er der Geliebten mit der Stimme seines Nebenbuhlers, seinem Vorgesetzten mit der Stimme des Ministers allerhand sagen kann. Auch lassen sich brillante Bühneneffekte dadurch erzielen, daß man das Telephon zum Empfangen einer Geräuschkulisse verwendet. In dem alten Film „Broadway Me-lody“ gab es einen Reporter, der in seinem Hotelzimmer den Eindruck erwecken wollte, er sei eine gefeierte französische Diva. Deshalb piepste er bei jedem Anruf in die Muschel: „I am busy-y, I am very busy-y...“ und hielt dann sein Grammophon mit einer französischen Koloraturarie an den Hörer. Das war damals etwas Neues und das Publikum jubelte. Auch sonst lassen sich nette Wirkungen mit dem Telephon erreichen, so zum Beispiel, wenn man einen aufgeregten Telephonnovizen in den Hörer rufen läßt: „Hier da — wer dort?“ Schön ist es auch, wenn der Mann am anderen Ende wütend wird und zu schimpfen anfängt, während der Hörende die' Muschel gleichmütig auf die Tischplatte legt, so daß man bloß ein unartikuliertes Gezeter ä la Hühnerhof zu hören bekommt — womit der Ausbruch zu dem reduziert wird, was er eigentlich ist. Dasselbe tut der Ehemann, wenn er von der redseligen Gattin angerufen wird: er läßt die einsame Muschel vor sich hinzwitschern, um sich mit Wichtigerem zu beschäftigen. Dabei hat dieses Telephon, das man so leicht abstellen kann, doch eine Fähigkeit, die man der Liebe nachsagt: es „dringt durch alles sich“. Denn mit „Fernruf“ kannst du jeden Milliardär, König oder Minister an die Muschel kriegen. — Allein die größte Wirkung des Telephons ist eine moralische. Es ist nämlich der wichtigste Kußunterbrecher der modernen Dramatik. Immer wenn sich zwei Lippenpaare innigst berühren wollen, klingelt das Telephon, und sie fahren wie ertappt auseinander. Das nächste Unterbrechungsstadium tritt ein, wenn der Kuß bereits in Applikation ist, das heißt wenn die beiden Mäulchen förmlich aufeinandergepappt sind — und plötzlich das Telephon aufschrillt. Hier wirkt es als Erlöser von einem unästhetischen Anblick. Und als letzte Unterbrechung läutet das Telephon, wenn die immer schwülere Situation in Gefahr gerät, von der Filmzensuf verboten zu werden — auf die Art hat der Fernsprecher den Filmgesellschaften schon Millionen erspart. Oft sagt der Liebhaber, um die Stärke seiner Leidenschaft zu bezeugen: „Laß es doch weiterläuten, das Telephon — was geht uns die Welt an ...“ Das Publikum hält den Atem an - um Gottes willen, sie werden doch nicht das Telephon versäumen?!... Aber es ist charakteristisch, daß dann schließlich doch immer der Hörer abgenommen wird. Und endlich, die erschütterndste Rolle: jemand ist soeben gestorben; er liegt allein im Zimmer; da läutet sein Telephon und läutet...

In der Tat, das Telephon hat das größte Emploi von allen Schauspielern, die je auf der Bühne gestanden sind: es ist die ganze Menschheit, jede Behörde, jeder einzelne Mensch — und zugleich ein bloßer Apparat aus Metall, Hartgummi und etwas Draht. Das macht sein Pathos, aber auch seinen Humor aus. Es stellt die gewaltigste Möglichkeit dar, aber auch, da es nur Mittel ist, die gewaltigste Möglichkeit des Schwindels! Das Telephon, dieser Draht, durch den die Menschen in alle Fernen hassen, lieben, um Rettung flehen, anklagen, klatschen und Geld verdienen, ist so, wie die Menschen zueinander sind.

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