Flaue Christenseele: "Consummatus" von Sibylle Lewitscharoff

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Mit "Consummatus" schuf Sibylle Lewitscharoff einen überraschenden und mitreißenden Roman.

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Mit "Consummatus" schuf Sibylle Lewitscharoff einen überraschenden und mitreißenden Roman.

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Sibylle Lewitscharoff würde es keinem Leser verübeln, wenn er bei "Consummatus" an Konsum denkt - im Gegenteil: "Wer den Titel falsch versteht, ist ebenfalls im Recht", meint sie im Interview mit der Literaturzeitung Volltext. "Consummatus est", es ist vollbracht, sagt Jesus am Kreuz.

Rätselhaft und packend

Ralph und seine Toten, die im Mittelpunkt von Lewitscharoffs Roman stehen, sind allerdings tatsächlich dem Sich-Verbrauchen näher als einem Vollbringen.

Es ist ein rätselhafter Roman. Seine Poesie packt von den ersten Seiten an: "Die Erde gleitet fort auf ihrer Bahn, gehüllt in Wetter aller Art."

Wir befinden uns in Stuttgart und schreiben Samstag, den 3. April 2004. Ralph Zimmermann kehrt zum Frühstück ins Café Rösler ein, wo er bis in den frühen Nachmittag bzw. den ganzen Roman lang bleiben wird. Er ist 55 Jahre alt, Lehrer für Deutsch und Geschichte und ein heiliger Trinker. Seine Erzählungen sind mehr als unwahrscheinlich, aber wozu befinden wir uns in einem Roman.

Ralph war schon einmal bei den Toten. Das liegt nicht nur an dem, seinem Alkoholismus geschuldeten, einstigen Zusammenbruch, sondern auch an seiner schon im Jugendalter erwachten "Manie mit dem Tod" - der einzigen Exzentrik, die der stille Mann sich leistet. Die Toten scharen sich seither gerne um ihn. Ein ganzes "Rudel" umschwebt ihn im Café, unterbricht frech seinen Monolog, spöttelt liebevoll und ist immer wieder unzufrieden mit ihm - es wäre von ihm als Botschafter zwischen dort und hier mehr erwartet worden. Seine Toten: Da ist allen voran Joey, die Geliebte, die im Dunstkreis von Warhols Factory berühmt gewordene Sängerin. Andy selbst ist auch im Rudel, ebenso Jim Morrison und Warhols Muse Edie Sedgwick, aber auch Ralphs Eltern, geliebte Autoren und sogar Romanhelden. Neun leidenschaftliche Monate hat der brave Stuttgarter Lehrer mit Joey, der Underground-Ikone, in den 80ern verbracht. Die Frage ist, was ihn, den "leisen, bleichen, sanften Mann", um alles in der Welt so gefesselt hat am schönen und schrecklichen Schillern der Pop-Art-Welt. Hat er doch eine alte Seele und sucht Gott auf Schritt und Tritt. Er weiß sogar: "Es gibt Ihn." Er hat Ihn dort im Totenreich erlebt - was allerdings nicht reicht, um Ralph auf Dauer zu erfüllen; er ist "nur eine flaue Christenseele, die alles schluckt und gegen alle Erfahrung hofft und hofft und hofft".

Religiöse Rückeroberung

Was für ein Plot; und was für ein Wunder, dass das alles tatsächlich zusammengeht. Ralph erinnert sich, wie es im Sterben in ihm zwei Lieder gesungen hat: das tröstliche "lebet, sterbet, ruhet hier" aus der Matthäuspassion und das untröstliche "Desolation Row" von Dylan. Was Ralph in sich vereint ist eine wehmütige religiöse Sehnsucht und Liebe zur Moderne in ihrer ganzen Ungeborgenheit. Wobei: Lewitscharoff zeichnet ihn als den, der seine einstigen Heroen überlebt. Im Grunde sind sie es, die alt aussehen. Und das ist wohl Programm. "Ich halte eine Rückeroberung des religiösen Terrains für wünschenswert", sagt Lewitscharoff. Mit Ralph Zimmermann hat sie einen sympathischen, weil zaudernden und skrupulösen Rückeroberer geschaffen.

Intertextuelle Bezüge

Was allerdings an dem Roman verwirrt, ist zum einen das Übermaß an intertextuellen Bezügen - von Luther über Jean Paul bis zu Rilke, Jim Morrison und vielen anderen. Zum anderen eine Art von Überdeterminiertheit der Figuren - so muss Ralph den eigentlichen Nachnamen von Bob Dylan tragen; Joey wiederum hat ihr reales Vorbild in der Velvet-Underground-Sängerin Nico, die für eine provokante Aufarbeitung der deutschen Geschichte steht. Alles in allem manchmal ein bisschen zu viel an Sinn, was die Dechiffriermaschine zum Streiken bringt.

Zum Glück hat man sich auf den ersten Seiten bereits verliebt in Zimmermann, in seine Wehmut, seine Demut und in sein kluges Delirieren. Er bleibt auf interessante Weise in der Schwebe, nicht Fisch, nicht Fleisch, das ist sehr heutig. Mittelmäßig ist er, schwach und scheiternd. Was an dieser Figur so überrascht und "neu" wirkt, ist, dass er das alles weiß, aber mit sich Erbarmen hat.

Consummatus

Von Sibylle Lewitscharoff

Deutsche Verlags-Anstalt,

München 2006

236 Seiten, geb. e 19,50

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