Gescheiterter Sühneversuch: "Montgomery" von Sibylle Lewitscharoff

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Eine Verfilmung des Lebens von Joseph Süß Oppenheimer wagt der Held des neuesten Romans von Sibylle Lewitscharoff.Dabei wird er mit dem blinden Fleck in seinem eigenen Leben konfrontiert.

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Eine Verfilmung des Lebens von Joseph Süß Oppenheimer wagt der Held des neuesten Romans von Sibylle Lewitscharoff.Dabei wird er mit dem blinden Fleck in seinem eigenen Leben konfrontiert.

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Gegenüber seinen Vorgängern "Pong", der seiner Autorin Sibylle Lewitscharoff 1998 den Bachmannpreis einbrachte, und "Der höfliche Harald" hebt sich "Montgomery" durch seine konventionellere Erzählweise ab. Geschildert werden die letzten Tage des deutschitalienischen Filmproduzenten Montgomery Cassini-Stahl, dem bei der Verwirklichung seines "Herzensprojektes", der Verfilmung des Lebens von Joseph Süß Oppenheimer, zusehends die Kontrolle über sein eigenes, streng geordnetes Leben entgleitet. Der Film kommt weit teurer als veranschlagt, der Hauptdarsteller versackt in den Spelunken Roms und der so sehr auf Distanz bedachte Einzelgänger Montgomery verliebt sich Hals über Kopf.

Leben entgleitet

In der rasanten Zuspitzung des Geschehens wird er mit Schlüsselereignissen seines Lebens konfrontiert, in kunstvoller Verdichtung spiegeln sich Stuttgarter Kindheit und Gegenwart ineinander, die Liebesbeziehung, die wenige Stunden vor dem vorhersehbaren Herztod ihre Erfüllung findet, entrückt Montgomery "ins Glück" und seine letzte, planlose Wanderung durch das pfingstmorgendliche Rom erstreckt sich über 50 Seiten in rastloser, religiös überhöhter, ekstatischer Prosa.

Blinder Fleck

Soviel zur "Story", die jedoch auf einer höheren fiktionalen Ebene angesiedelt ist, denn in der Rahmenhandlung tritt ein "Erzähler" auf, ein Schulkollege Montys, der diesem zufällig kurz vor seinem Tod begegnet ist und zum Chronisten des im Grunde unbekannten, da von jeher einzelgängerischen ehemaligen Mitschülers wird. Durch gründliche Recherchen meint er, Montys Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein: dieser habe nämlich im Alter von neun Jahren seinen körperbehinderten Bruder aus Eifersucht, dem biblischen Motiv des ersten Mordes, im Schwimmbad ertränkt. Mit diesem Verdacht infiziert nähert sich der Leser der Figur Montgomerys, in dessen Bewusstsein "der Tag, an dem Robert starb" einen blinden Fleck darstellt. Alle Brüche und Widersprüche in Montgomerys Charakter und Biografie scheinen sich aus diesem alten, unentdeckt gebliebenen Verbrechen zu erklären.

Doch abseits dieser fiktionalen Verschachtelungen behandelt der Text den Umgang mit der realen historischen Schuld, einem Stuttgarter Justizskandal aus dem 18. Jahrhundert.

Jud Süß

Joseph Süß Oppenheimer, ein jüdischer Finanzmann, musste für die absolutistischen Bestrebungen des ersten katholischen Württemberger Herzogs als Sündenbock herhalten, denn nach dessen plötzlichem Tod brachten die evangelischen Landstände Süß an den Galgen und sein Leichnam blieb "zur Schande und Warnung" sechs Jahre in einem eisernen Käfig hängen.

Schon in Lion Feuchtwangers Roman erscheint die Biografie Oppenheimers verzerrt. Die Fakten benutzte Feuchtwanger, den das Exemplarische der Geschichte interessierte, "nur als Sauce: das Wesentliche des Historischen Romans" sei "das Erfundene".

Gerade aber dieses Erfundene, die - fiktive - Tochter Oppenheimers, die sich dem zudringlichen Herzog nur durch einen Sprung in den Tod entziehen kann, verkehrt Veit Harlan wenige Jahre später in dem berüchtigten Nazi-Propagandafilm "Jud Süß" ins Gegenteil und Kristina Söderbaum begründet durch ihre Darstellung der hier durch den Juden (!) bedrängten Unschuld ihren zweifelhaften Ruf als "Reichswasserleiche".

Was Montgomery (und auch die Autorin) an diesem Stoff anzieht, ist zweifellos die Absicht, dieses historische Unrecht durch eine adäquate Darstellung zu sühnen.

Historisches Unrecht

In einer der packendsten Szenen - Montgomery muss den verschwundenen Hauptdarsteller bei der Fahrt auf dem Schindkarren aufgrund körperlicher Ähnlichkeit doubeln - wird ihm jedoch seine persönliche Schuldverstrickung bewusst: "Daß der Abkömmling eines NSlers aus Degerloch - seine Phantasie führte den Großvater heran, aufgeputzt wie ein Hollywoodfaschist in blankgewichsten Stiefeln und einer Uniform, an deren Kragenspiegel SS-Abzeichen wie die Juwelen blitzten -, daß ausgerechnet so einer den heldenhaften Juden mimen mußte, bei dem Gedanken konnte einem übel werden. Das Ungeheure dieser Anmaßung erfasste ihn. Seine Existenz war plötzlich ins Lächerliche gekippt."

Montgomery

Roman von Sibylle Lewitscharoff

Deutsche Verlags-Anstalt

München 2003

352 Seiten, geb., e 20,50

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