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Herr Tartüff

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Herr Tartüff kniet auf einem Betstuhl neben der kleinen Christenlehrkanzel und bereitet sich in der Stille auf die Beichte vor.

Gewöhnlich ist seine Gewissenserforschung kurz. Er begeht täglich eine gewisse Anzahl kleiner Fehler, immer die gleichen, und denkt nicht einmal daran, sie zu meiden. Er klagt sich ihrer mechanisch an, sie werden ihm nachgelassen — und er beginnt von vorne.

Diesmal bemüht er sich unter dem

Eindruck der Umgebung und der Heiligkeit Pfarrer Vianneys, im sündigen Bereich seiner Seele etwas Neues zu finden. Er hat nicht gemordet, nicht gestohlen. Frau Tartüff nicht betrogen. Niemand von seinen Freunden und seinen Konkurrenten verleumdet. Er hat sich nicht betrunken. Er hat die Messe nicht versäumt, hat seine Gebete regelmäßig verrichtet, den Namen Gottes nicht eitel genannt.

Aber zwei zweifelhafte Punkte halten ihn auf, denn die Erinnerung an sie ist ganz frisch.

Hat er nicht ein wenig Mißbraudi mit seiner Redegewandtheit getrieben, um den Händlerinnen, die er eben besucht hat, eine größere Bestellung abzuluchsen, trotzdem er keineswegs überzeugt war, daß sie ihre Ware an den Mann bringen werden? — Aber wenn er sich bei solchen Skrupeln aufhalten wollte, könnte er überhaupt keine Geschäfte mehr machen. Indem er seinem Vertrauen auf die Zukunft der Pilgerfahrten Ausdruck verleiht, huldigt er ja schließlich dem heiligen Pfarrer.

Hat er nicht bei mehreren Gelegenheiten auf seine Nachbarin, Fräulein Toto, einen Blick geworfen, dessen Unschuld und Absichtslosigkeit man einigermaßen in Zweifel ziehen könnte? Ja, hatte er nicht sogar — oh, nur flüchtig wie ein Blitz — gewünscht, eine einsichtsvolle Vorsehung möge ihm die Gelegenheit bieten, sie näher zu sehen? — Aber konnte er anders? Er hatte sich ja nicht neben sie gesetzt, sondern sie sich neben ihn. Eine nachbarliche Reflexwirkung war am Ende unvermeidlich? Sein Wille hatte keinen Teil daran. Er hat sich noch nie in der Beichte angeklagt, daß ihm der Anblick einer Frau Vergnügen bereitet habe, obwohl das bei ihm fast alle Tage vorkommt, übrigens schaut er nur von unten her, durch die Brillengläser gedeckt, und so, daß die Frauen nichts merken; ein Ärgernis ist daher vermieden.

Er will diese kleinen Sünden auch weiterhin als Ablenkung von größeren Versuchungen ansehen. Es ist besser, er verausgabt seinen Uberschuß an Sinnlichkeit auf diese Weise, in einer Ausmündung ohne Folgen, als daß sie sich anhäuft, bis sie zum Ausbruch kommt. Die läßliche Sünde, durch die eine Todsünde vermieden wird, wäre eher empfehlenswert.

Bleibt also das Geläufige: Zerstreutheit beim Gebet und in der heiligen Messe, schlechte eheliche Laune, üble Nachrede in Gesellschaft (der Ausdruck Lüge ist zu grob und zu häßlich) und, damit es mehr wird, Naschhaftigkeit, obgleich er nie zuviel ißt oder trinkt. Er vergißt den Geiz, die Herzenshärte und die offenkundige Mittelmäßigkeit seiner Liebe zu Gott wie zum Nächsten; diese Sünden stehen nicht auf der Liste. Er geht sein Gewissen noch einmal durch. Nichts. Er ist bereit zu erscheinen. Warten wir also in Geduld.

Während er wartet, bis die Reihe an ihn kommt, betrachtet er durch die Finger, die er vor den Augen verschränkt hält — die beiden Daumen drückt er gegen die Schläfen —, die Leute, die vom Bußgericht zurückkommen.

Da kommt einer weinend heraus. Hm? Er hatte wohl viel zu sagen, oder er ist nicht losgesprochen worden.

Der nächste ist sichtlich erleichtert. Er hatte vieleicht seit zwanzig Jahren einen Mord auf dem Gewissen.

Ein Dritter wankt heraus. Der mag wohl seinen Sack nicht bis auf den Grund geleert haben, oder er tat es .nicht ohne Schwierigkeiten.

Und so fort.

Herr Tartüff vergleicht sich mit diesen großen Sündern, und der Vergleich fällt zu seinen Gunsten aus. Aber als die Reihe an ihn kommt, fühlt er sich doch nicht so sicher. •

In frommer Haltung kniet er sich zwisdien dem Sakristeischrank und der Wand mit dem Gitterchen, hinter dem Pfarrer Vianney sitzt, nieder. Dieser läßt ihn seine kleine Geschichte abhaspeln, ohne ihn zu unterbrechen. Als Herr Tartüff fertig ist, wartet er noch“ einen Augenblick, wie um ihn Zeit zu lassen, sein Bekenntnis zu vervollständigen, und dann fragt er mild:

.Ist das alles, mein Sohn?“

„Ich glaube, Hochwürden.“

Wieder eine kleine Pause.

„Wenn Sie es glauben, ist's ganz gut. Demütigen Sie sich vor Gott und versprechen Sie ihm, daß Sie sich Mühe geben wollen, ihm nicht mehr zu mißfallen ...“

Herr Tartüff verläßt den Beichtstuhl, scheinbar zerknirscht, vor allem aber zufrieden mit sich selbst. Er ist mit der Höchstzahl weißer Kugeln aufgenommen. Rasch erledigt er seine Buße, denn er muß noch zwei Kunden besuchen. Das Gefühl, daß der Beichtvater seine persönliche Befriedigung geteilt hat, bestätigt in seinen Augen den Scharfblick des Heiligen. Dieser hat nichts Besonderes gesagt, weil er einem guten Christen, wie er ist, nichts Besonderes zu sagen braucht, einem Manne, der selbst in seinen Geschäften am Fortschritt der allerheiligsten Religion in der Welt arbeitet. Er dankt dem Himmel, wie ein Gläubiger dem Schuldner danken würde der eben seine Schuld gezahlt hat, und entfernt sich mit seinem Musterkoffer.

Nachdem er noch zwei gute Seelen hineingelegt hat, sieht man ihn dann gleich sein kleines Gepäck ins Hotel zurücktragen. Er wäscht sich die Hände, bürstet sich ein bißchen ab, um an der Table d'hote einen guten Eindruck zu machen, und geht dann wieder in den Hof hinunter. Die Stiege ist schmal. Er muß sich an die Mauer drücken, um Fräulein Toto vorbeizulassen, die mit Herrn Josef hinaufgeht. Er kann nicht umhin, sie zu grüßen (es bemerkt's ja niemand), und sie geht zu nahe an ihm vorbei, als daß er sie nicht ansähe. Er entschuldigt sich liebenswürdig und sie tut desgleichen. Er mißfällt ihr auch durchaus nicht: der Herr mit dem Bart ist vielleicht Witwer. Herr Tartüff geht weiter, selig in dem Gedanken, was für eüi guter Christ er doch ist.

(Aus: „Die Spiele der Hölle und des Himmels“, mit Bewilligung des Verlages Anton Pustet, Graz)

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