"Ich habe ihn eingeatmet"

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Dimitré Dinev über Anton Tschechov. die furche 22. 7. 2004

Er kommt im Jahr 1860 als Kind von Evgenija Jakovlevna und Pavel Egorovitsch zur Welt. Der Diakon irrt sich, vielleicht weil er Zahnweh, vielleicht weil er an seine junge Frau gedacht hat und trägt statt dem 16. den 17. Januar als Geburtsdatum ein. Am 27. wird das Neugeborene Antonij getauft. Sein Taufpate ist der Kaufmannsbruder Spiridon Titov. "Kaufmannsbruder! Haben Sie jemals von so einem Titel gehört?", wird der Getaufte Jahre später Bunin fragen. "Ein erstaunlicher Titel! Nein, ich habe noch nie von so einem Titel gehört", wird Bunin antworten.

Der vom Kaufmannsbruder getaufte Antonij wird ein sehr kurzes Leben haben. Mit 13 wird er in die Mysterien der Liebe, mit 19 in die der Literatur, mit 24 in die der Medizin eingeweiht. Er wird seine Werke mit Antoscha Tschechonte, Bruder des Bruders, der Mensch ohne Milz und erst später mit Anton Tschechov unterschreiben. Mit 30 wird er durch Sibirien nach Sachalin reisen und lange danach noch das Klirren der Ketten hören. Später wird er durch Europa fahren, guten Wein trinken und Austern essen. Bei Namenstagsfesten wird er sich amüsieren. Manchmal wird ihm das Meer sehr öde erscheinen und er wird sich wünschen, Offizier oder junger Student zu sein, an einem belebten Platz zu sitzen und lustige Musik zu hören, um nicht vor lauter Langeweile in Autka Mäuse zu jagen ... Am 15. Juli 1904 wird er als Anton Pavlovitsch Tschechov diese Welt verlassen. 44 lange Winter und einen jungen Sommer alt wird er sein. Mit sich in die Unsterblichkeit wird er Evgenija Jakovlevna nehmen und den Kaufmann der dritten Gilde Pavel Egorovitsch, aber auch den Diakon, der sich bei seiner Geburt geirrt hatte, den Kaufmannsbruder Spiridon Titov und einen ganzen Zug voller Leute, die nicht wie Bunin Zeit und Muße, Disziplin und Glück oder einfach Lust hatten, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu arbeiten.{...}

Seine Sprache ist so schlicht und klar, {...} dass einem das Lesen und Glauben seiner Geschichten so leicht fällt wie das Atmen.

Ja, ich habe Tschechov nicht gelesen, ich habe ihn eingeatmet. Seither ist alles, was sich unter meiner Brust verbirgt, breiter geworden und ich kann mir jetzt nicht vorstellen, wie ich ohne ihn leben konnte. Zu ihm passt der Begriff "Literat" genauso wenig wie zu Tolstoj, bemerkt Bunin. Sein Werk zu kennen, kann daher nie eine Empfehlung sein, denn jemandem das Atmen zu empfehlen, ist einfach lächerlich. Tschechov zu kennen, ist viel mehr eine Notwendigkeit, eine Grundbedingung für alle, die Literatur lieben.

Er gibt nicht nur den einfachen Menschen, sondern auch den einfachen Sätzen und Worten ihre Würde zurück. Sie sind es, die seine Geschichten an allen Abstraktionen vorbeigleiten lassen und ans Ufer einer von keinen Dogmen erstarrten Klarheit führen. Selten ist so deutlich gewesen, dass sich allein mit Worten, die alle kennen, am meisten ausdrücken lässt. Jedes Wort ist gut genug und man braucht derer nicht viele, um etwas gut zu erzählen. Oder wie der Meister selbst sagt, "man soll so schreiben, dass es den Worten eng wird und den Gedanken breit".

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