"Ich habe ihn eingeatmet"

Werbung
Werbung
Werbung

Zum 100. Todestag von Anton Tschechov.

Er kommt im Jahr 1860 als Kind von Evgenija Jakovlevna und Pavel Egorovitsch zur Welt. Der Diakon irrt sich, vielleicht weil er Zahnweh, vielleicht weil er an seine junge Frau gedacht hat und trägt statt dem 16. den 17. Januar als Geburtsdatum ein. Am 27. wird das Neugeborene Antonij getauft. Sein Taufpate ist der Kaufmannsbruder Spiridon Titov. "Kaufmannsbruder! Haben Sie jemals von so einem Titel gehört?" wird der Getaufte Jahre später Bunin fragen. "Ein erstaunlicher Titel! Nein, ich habe noch nie von so einem Titel gehört", wird Bunin antworten.

Der vom Kaufmannsbruder getaufte Antonij wird ein sehr kurzes Leben haben. Mit 13 wird er in die Mysterien der Liebe, mit 19 in die der Literatur, mit 24 in die der Medizin eingeweiht. Er wird seine Werke mit Antoscha Tschechonte, Bruder des Bruders, der Mensch ohne Milz und erst später mit Anton Tschechov unterschreiben. Mit 30 wird er durch Sibirien nach Sachalin reisen und lange danach noch das Klirren der Ketten hören. Später wird er durch Europa fahren, guten Wein trinken und Austern essen. Bei Namenstagsfesten wird er sich amüsieren. Manchmal wird ihm das Meer sehr öde erscheinen und er wird sich wünschen, Offizier oder junger Student zu sein, an einem belebten Platz zu sitzen und lustige Musik zu hören, um nicht vor lauter Langeweile in Autka Mäuse zu jagen... Am 15. Juli 1904 wird er als Anton Pavlovitsch Tschechov diese Welt verlassen. 44 lange Winter und einen jungen Sommer alt wird er sein. Mit sich in die Unsterblichkeit wird er Evgenija Jakovlevna nehmen und den Kaufmann der dritten Gilde Pavel Egorovitsch, aber auch den Diakon, der sich bei seiner Geburt geirrt hatte, den Kaufmannsbruder Spiridon Titov und einen ganzen Zug voller Leute, die nicht wie Bunin Zeit und Muße, Disziplin und Glück oder einfach Lust hatten, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu arbeiten.

Zug voller Menschen

In diesem Zug sitzt der Drechsler Grigorij Petrov, wieder im Besitz seiner Füße und Hände, und schnitzt ein Zigarettenetui aus Birkenholz. Der Kutscher Jona ist auch dabei, glücklich darüber, dass er endlich sein Leid auch jemand anderen, und nicht wie einst nur seiner Stute, erzählen kann. Die junge "Anjuta" blickt durchs Fenster, wischt ihre Tränen ab und denkt an den Medizinstudenten Stepan Klotschkov. Auch der kleine "Wanka" ist da und springt außer sich vor Freude herum, dass er nun zu seinem über alles geliebten Großvater fahren kann. Neben ihm sitzt "der Student" Iwan Welikopolski und unterhält alle mit Geschichten aus der Bibel. Eine alte Frau mischt sich ein und erzählt, dass sie einen Sohn gehabt habe, der "Bischof" gewesen sei, aber keiner glaubt ihr. In einem Waggon erster Klasse feiert Olga Michailovna den "Namenstag" ihres Mannes Pjotr. "Der gute Deutsche" prahlt dabei mit seinen Russischkenntnissen, schlägt auf sein russisches Herz und zeigt allen seine russische Zunge. Der vom "Typhus" wieder genesene Oberstleutnant Klimov lacht dabei laut. Der Hund "Kaschtanka" bellt, der Zug knattert und irgendwo mittendrin hört man die Geige Rothschilds spielen. Weit hört man sie, weit...

Meine Vorstellung von Literatur lässt sich grob in zwei Abschnitte teilen: in die Zeit, bevor ich Tschechov gelesen habe, und in die Zeit danach. Bei keinem anderen Autor ist das Verhältnis von Qualität und Quantität so ausgeglichen, das Wissen so umfassend, das Können so unaufdringlich. Noch nie bin ich einem größeren Reichtum an Themen und Charakteren, einem größeren Einfühlungsmeister begegnet. Nicht zufällig meint Gorki, dass sich nach Tschechov kein Autor mehr beschweren sollte, dass er keine Themen findet. Tschechovs Erzählungen sind vollkommen und abgerundet wie der Mond. Himmelskörper, die keinen Natur- oder Literaturgesetzen mehr unterworfen sind und die, geriete man in ihre Nähe, das Licht und die Wärme eines außergewöhnlichen Herzens ausstrahlen. Seine Sprache ist so schlicht und so klar, so organisch, natürlich und wahrhaftig, dass einem das Lesen und Glauben seiner Geschichten so leicht fällt wie das Atmen.

Jedes Wort gut genug

Ja, ich habe Tschechov nicht gelesen, ich habe ihn eingeatmet. Seither ist alles, was sich unter meiner Brust verbirgt, breiter geworden und ich kann mir jetzt nicht vorstellen, wie ich ohne ihn leben konnte. Zu ihm passt der Begriff "Literat" genauso wenig wie zu Tolstoj, bemerkt Bunin. Sein Werk zu kennen, kann daher nie eine Empfehlung sein, denn jemandem das Atmen zu empfehlen, ist einfach lächerlich. Tschechov zu kennen, ist viel mehr eine Notwendigkeit, eine Grundbedingung für alle, die Literatur lieben.

Er gibt nicht nur den einfachen Menschen, sondern auch den einfachen Sätzen und Worten ihre Würde zurück. Sie sind es, die seine Geschichten an allen Abstraktionen vorbeigleiten lassen und ans Ufer einer von keinen Dogmen erstarrten Klarheit führen. Selten ist so deutlich gewesen, dass sich allein mit Worten, die alle kennen, am meisten ausdrücken lässt. Jedes Wort ist gut genug und man braucht derer nicht viele, um etwas gut zu erzählen. Oder wie der Meister selbst sagt, "man soll so schreiben, dass es den Worten eng wird und den Gedanken breit".

Wahrscheinlich waren viele der Kritiker seiner Zeit in ihrem Denken nicht so weit, vielleicht haben sie ihm nicht verziehen, dass er nicht mit der unbescheidenen Stimme eines Propheten gesprochen oder dass er soviel Respekt vor der Leserschaft hatte, dass er keine fertigen Urteile in seinen Werken versteckte, denn sie haben ihn viel zu oft und zutiefst verletzt.

Ein Übermaß an Liebe

"Was für ein Jammerer' bin ich? Was für ein mürrischer Mensch'? Was für ein kaltes Blut', wie die Kritiker sagen. Was für ein Pessimist bin ich, wenn mir von all meinen Arbeiten, die Erzählung Der Student' meine allerliebste ist... Allein das Wort ist so ekelhaft: Pessimist... Nein, Kritiker sind noch schlimmer als Schauspieler und die sind schon ganze 75 Jahre hinter der Entwicklung der russischen Gesellschaft zurückgeblieben", wird er in einem Gespräch mitteilen. Es gibt eine Stelle in der Erzählung Lichter', die sich sehr gut eignet um aufzuklären, unter welchen Bedingungen allein Tschechov den Begriff Pessimismus gelten lässt. Der Ingenieur Ananjev erzählt an dieser Stelle von dem Staatsförster Ivan Alexandrytsch, dem der Bau der Eisenbahnlinie, den er hingerissen mitverfolgt, wie Zauberei erscheint. "... die Arbeiter waren in Fahrt und arbeiteten wirklich geschickt und schnell, besonders einer dieser Burschen ließ den Hammer ungewöhnlich gewandt auf den Nagelkopf fallen und trieb ihn mit einem Schlag ein; der Hammergriff war an die zwei Meter, jeder Nagel einen Fuß lang. Ivan Alexandrytsch sah den Arbeitern lange zu, er war gerührt und sagte mit Tränen in den Augen zu mir: Wie schade, dass diese vortrefflichen Menschen eines Tages sterben müssen.' Diesen Pessimismus kann ich verstehen..."

Tschechov Pessimismus vorzuwerfen ist so, wie ihm sein unermessliches Mitleid mit allem Lebendigen vorzuwerfen. Aber es gehört zur Tradition der Menschheit, Leute wegen ihres Übermaßes an Liebe zu bestrafen.

"Wissen Sie, wie viele Jahre man mich noch lesen wird? Sieben.", sagte er einmal zu Bunin.

"Warum sieben?"

"Na gut. Siebeneinhalb."

"Nein. Die Poesie lebt lang und je länger desto stärker wird sie."

"Als Poeten, mein lieber Herr, gelten nur jene, die solche Worte wie silbrige Ferne', Akkord' oder Im Kampf, im Kampf, besiegen wir die Dunkelheit' verwenden. [...] ,nein, man wird mich doch nur sieben Jahre lesen. Und zu leben habe ich noch weniger. Sechs. Sagen Sie das aber bitte nicht den Reportern von Odessa."

Wie eine Schlittenfahrt

Es gibt eine sehr kurze und sehr schöne Liebesgeschichte, "Ein Scherzchen", heißt sie. In ihr lädt der Ich-Erzähler die junge Nadja zu einer Schlittenfahrt ein. Sie hat Angst und er muss sie lange überzeugen, bis sie einwilligt, mit ihm den steilen Berg hinunterzufahren. Als sie dann hinunter rasen und der Wind um ihre Ohren saust und sie vor Angst beinahe stirbt, erlaubt er sich den Scherz, ihr ganz leise zuzuflüstern: "Ich liebe Sie, Nadja." Er sagt es nur einmal und als sie unten ankommen, tut er so, als ob nichts passiert wäre. "Wissen Sie was", sagt sie nach einer Weile, "lassen Sie uns nochmals fahren."

Tschechovs Erzählungen sind so kurzweilig, dass sie mir wie eine Schlittenfahrt vorkommen. Er lädt seinen Leser ein, um ihm irgendwann während der Fahrt eine Liebeserklärung ins Ohr zu flüstern. Ob der Leser diese hört, ist ungewiss. Aber eines ist ziemlich sicher. Er wird noch einmal mit dem Schlitten fahren wollen. Für ihn werden diese Fahrten zu den wunderbarsten der Literatur zählen. Während Tschechov, bescheiden wie er ist, sich all die hundert Jahre denken wird, "... warum habe ich diese Worte gesprochen, weswegen habe ich gescherzt?" Und er wird weitere sieben Jahre warten müssen, um vergessen zu werden, und weitere sechs, um zu sterben.

Die verwendeten Zitate stammen aus dem Buch "Über Tschechov" von Iwan Bunin.

Der Autor lebt als freier Schriftsteller in Wien.

Geboren in Bulgarien, flüchtete er 1990 nach Österreich. Er studierte Philosophie und russische Philologie. Im Herbst 2003 erschien sein erster Roman "Engelszungen".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung