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Helen Meiers Erzählung "Schlafwandel" ist ein missglückter Tabubruch.

Noras Langzeitgefährte ist gestorben, mühsam richtet sie sich in dem neuen Alleinsein ein, vergräbt sich in ihrer Arbeit, stürzt sich in soziales Engagement, schreibt ein Theaterstück, das aufgeführt und sachte verrissen wird. Dem Ausflug in die Kunstszene verdankt sie die Bekanntschaft mit der dynamischen, aufregend anregenden Celestina. Noras Aufbruch zurück in ein neues Leben, an neue Ufer beginnt. Und hier fängt auch das Dilemma dieses Buches an.

Zwei ungleiche Frauen

Nora, das wird erst langsam klar, ist eine knapp siebzigjährige Frau, also jenseits des Wechsels. Wie spannend hätte es sein können, das Lieben und Begehren dieser Altersgruppe darzustellen. Wünsche und Sehnsüchte erlöschen ja nicht mit dem Auftreten von körperlichen Verfallserscheinungen. Aber diese Chance vergibt Helen Meier leider. Nora, von Zweifeln geplagt, gleichzeitig von ärgerlicher Selbstverliebtheit geprägt, verliebt sich, welch Klischee, in einen, verglichen mit ihr, jungen Menschen. Celestina, knapp vierzig, kommt aus einer begüterten Familie, ist als Kind von Eltern und Großeltern herumgeschoben, mit Geld ruhiggestellt worden. Sie unterrichtet an einer Universität mit offensichtlich lockerem Arbeitsverhältnis, sie hat, wie Nora, keine finanziellen Sorgen. Helen Meier variiert das banale Verhältnis nur insofern, als sie Nora die lesbische Welt entdecken lässt. Das ist nicht wirklich irritierend. Ärgerlich ist, dass die Autorin Schablonen benützt anstatt überzeugende Heldinnen aufzubauen.

Nora, noch den Verlust ihres Geliebten betrauernd, verliebt sich Hals über Kopf, betet Celestina an. Diesen "coup de foudre" beschreibt die Autorin mit der Wortgewalt, die man aus ihren früheren Werken kennt. Aber dann gleitet die Liebesgeschichte ins Triviale ab. Die gemeinsam erlebten Wochenenden, oft umrahmt von Konzerten, Aufführungen, Stadtbesichtigungen geraten zu flachen Schilderungen, die an schlechte Reiseführer erinnern, eine Aneinanderreihung von "Event-Berichten", eine Artikelserie aus "Schöner Wohnen".

Trennung, Versöhnung, Demütigung, Selbsthass - das sind die Begleiterscheinungen dieser Liebe, alles Gefühle, die schon oft und vor allem besser beschrieben worden sind. Helen Meier, bekannt dafür, Tabus aufzugreifen, schrulligen, unangepassten Menschen literarischen Platz zu schaffen, will das Verschwommene, das Vage in passende Worte kleiden, aber es misslingt. Nebulose Grenzziehungen, die an jugendliche Schwärmerei in Tagebüchern erinnern. Schwadronieren und ausuferndes Aneinanderreihen von Beschreibungen verärgert zusätzlich. Leerstellen werden mit Adjektiven zugemüllt. Das ist schade, denn die Autorin hat einen verdienten Ruf als wortgewaltige Beschreibende skurriler Momente. Die 1929 geborene Schweizerin hätte auch die Erfahrung, das Alter und literarisches Können, um der Liebe Alternder einen überzeugenden Roman zu widmen. Aber dieses Vorhaben ist mit "Schlafwandel" gescheitert. Zu sehr gewinnt die gelernte Pädagogin und Therapeutin Meier Oberhand über die Schriftstellerin Helen Meier.

Pädagogische Züge

Dabei gibt es ein Aufblitzen früherer Qualitäten der Autorin, wenn ihrer Nora in Interviews mit alten und sterbenden Menschen manche wunderbar treffsichere Sätze gelingen: "Altwerden ist Grenzbesichtigung und eine verdammte Demütigung." Hier in diesen Geschichten innerhalb der eigentlichen Geschichte läuft Helen Meier zur gewohnten Form auf. Aber das ist zu wenig für ein ganzes Buch, zu wenig für eine Erzählung über Verblendung, Selbsttäuschung, Begierde. Das vorhersehbare Ende ist ein nicht überraschendes Debakel in jeder Hinsicht.

Schlafwandel

Erzählung von Helen Meier

Amman Verlag, Zürich 2006

218 Seiten, geb., e 19,50

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