Die Zahl auf der Waage: "Wintermädchen" von Laurie Halse Anderson

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"Ich brauche keinen Muffin (410), ich will weder eine Orange (75) noch Toast (87), und von Waffeln (180) kriege ich Erstickungsanfälle." Als die 18-jährige Ich-Erzählerin Lia erfährt, dass Cassie, ihre ehemals beste Freundin, tot in einem Motelzimmer aufgefunden wurde, scheint es nach außen, als wäre ihr Essverhalten nach einer stationären Therapie wieder im Normalbereich. Doch Cassies Tod und die damit verbundenen Schuldgefühle führen dazu, dass Lia nach und nach in eine von ihrer Magersucht geprägte Welt abgleitet.

Ungewöhnliche Stilmittel

Das realistisch gezeichnete Setting einer amerikanischen Upperclass-Familie wird zunehmend mit einer mystisch aufgeladenen Stimmung kontrastiert, in der Lia immer öfter von der verstorbenen Freundin heimgesucht wird - nach und nach wird den Lesenden klar, dass die beiden in einem ständigen Wettkampf miteinander standen, wer dünner werden könne. Im Kontrast zu Lias zunehmendem psychischen und physischen Verfall steht ihre exakt geplante strategische Vorgehensweise, ihren Zustand vor ihrer Umwelt zu verbergen: In den Bademantelstoff eingenähte Münzen täuschen ein höheres Gewicht vor, heimlich gehortete Vorräte an Abführmitteln und Psychopharmaka helfen ihr, nach außen hin ausgeglichen zu wirken.

Die für Essstörungen so charakteristische konstante Selbstzensur wird literarisch mit ungewöhnlichen Stilmitteln umgesetzt, die weit über die Sprache im engeren Sinn hinausgehen: Zahlreiche Durchstreichungen, "Nichts funktioniert nie funktioniert was es frisst mich einfach von weiter von innen auf", Wiederholungen und leere Seiten spiegeln den unaufhörlichen Versuch, die eigenen Gedanken, den eigenen Hunger unter Kontrolle zu bringen. Lia steht kurz vor einem tödlichen Ende -bis eine letzte Konfrontation mit Cassie eine Entscheidung bewirkt: "Es gibt kein magisches Heilmittel, nichts, was all das für immer verschwinden lässt. Es gibt nur kleine Schritte nach vorn. Ein leichterer Tag, ein unerwartetes Lachen, ein Spiegel, der keine Rolle mehr spielt."

Wie schon in ihrem Debütroman "Sprich" (2004 mit Kristen Stewart in der Hauptrolle verfilmt) versteht es die Autorin, von deren umfangreichem literarischen Œuvre leider erst zwei Bücher ins Deutsche übersetzt wurden, eine seelische Ausnahmesituation durch radikale Sprachbilder darzustellen. Für ihren eindringlichen Roman recherchierte sie sehr genau. Dennoch legt sie hier kein Problembuch zum Thema Essstörungen vor, sondern ein in seiner Sprachgewalt beeindruckendes literarisches Werk.

Wintermädchen
Von Laurie Halse Anderson
Aus dem Amerikan. von Salah Naoura
Ravensburger 2010
320 S., geb., 17,50

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