Flüchtig wie Schneeflocken: "Ich bin nicht Rotkäppchen!"

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Unser Lektorix des Monats.

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Nicht jedes Mädchen, das mit einem Korb in der Hand in den Wald geht, muss Rotkäppchen sein. Und einem schwarzen Wolf begegnen. Wird man aber so deutlich darauf hingewiesen, dass es sich eben nicht um Rotkäppchen handelt, wie das hier im Titel und auf der ersten Doppelseite der Fall ist, so wird im Kopf der Leser und Leserinnen etwas in Gang gesetzt: Eine alte Geschichte wird in Erinnerung gerufen, Erwartungen und Ängste werden erzeugt, Überraschungen sind vorprogrammiert.

Bär als Begleiter

Auf der zweiten Seite wird das Mädchen mit dem roten Schal dann auch schon mit einem weißen Bären konfrontiert und nach dem Inhalt des Korbs befragt. Natürlich ist kein Wein drin und auch kein Kuchen. Er ist leer, das Mädchen aber will ihn füllen, sie will Schnee sammeln, "weichen Schnee -weißer als Milch, leichter als die Wolken und frischer als Zitroneneis." Der große weiße Bär wird in der Folge zum Beschützer und Spielgefährten des Mädchens, er begleitet sie durch die kalte klare Winternacht, bis der Korb voller Schnee ist und der Morgen graut. Am Ende stapft er davon, den roten Schal des Mädchens um den Hals.

Alessandro Lecis' poetische Geschichte über die Sehnsucht macht deutlich, dass man schöne Momente nicht festhalten kann, sie sind leise und leicht und flüchtig wie die Schneeflocken, die vom Himmel tanzen. Linda Wolfsgruber inszeniert die Geschichte dieser Winternacht souverän in Collagen aus Figuren und Flächen, gearbeitet in Monotypien, Zeichnungen und Kaltnadelradierungen. Ihr Wald ist nicht gefährlich tief und dunkel, sondern ein heller, fast abstrakter, warmer Raum, einer Bühne gleich, auf der das Mädchen und der Bär ihren zärtlichen Tanz aufführen. Der Bär ist groß und schwer und scheint trotzdem zu schweben, aber auch Häuser und Bäume machen einen schwerelosen Eindruck. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Künstlerin mit Farbe so sparsam umgeht, es dominieren Flächen aus unterschiedlichen Weiß- und Grau- und Blautönen, auf denen der rote Schal der Hauptfigur herumtanzt und die Blicke der Betrachter lenkt.

Am Ende schauen wir dem weißen Bären nach, wie er in die weiße Nacht davonfliegt, dorthin, "wo der Mond sich schlafen legt". Vielleicht trifft er dort das Rotkäppchen und den Wolf, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Ich bin nicht Rotkäppchen!
Von Alessandro Lecis und Linda Wolfsgruber
Gerstenberg 2011
32 S., geb., € 13,40

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