Seine Augen: "Edwards Augen" von Patricia MacLachlan

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Unser Lektorix des Monats.

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In E. T. A. Hoffmanns schauriger Erzählung "Der Sandmann" sind die Augen ein zentrales Motiv: Dem Protagonisten Nathanael wird erzählt, der Sandmann streue den Kindern Sand in die Augen, "dass sie blutig herausspringen". "Augen her, Augen her", hört Nathanael den bedrohlichen Alchemisten Coppelius schreien. Die Angst vor dem Raub der Sehorgane (und dem damit zwangsläufig verbundenen Verlust von Seele und Persönlichkeit) durchzieht den ganzen Text. In Patricia MacLachlans schmalem Buch "Edwards Augen" hingegen wird zu Beginn nur angedeutet und erschließt sich erst vom Ende her, was der Verlust der Augen bedeutet.

Der Text ist aus Jakes Sicht erzählt, der sich an jenen Moment erinnert, als ihm sein drei Jahre jüngerer Bruder Edward das erste Mal in den Arm gelegt wurde. Was ihm an diesem Augenblick - wie auch an den folgenden Jahren -für immer in Erinnerung geblieben ist, sind Edwards Augen: "Seine Augen haben das dunkle Schlammblau des Nachthimmels, aber mit überraschenden goldenen Sprenkeln darin. Damit sieht er mir direkt in die Augen."

So besonders wie seine Augen bleibt Edward seine ganze Kindheit hindurch: Ein Kind, das sich vor nichts und niemandem fürchtet, völlig unbeschwert ist, alles zu wissen scheint. "Er ist irgendwohin unterwegs", beschreibt ihn ein Erwachsener - und nimmt damit vorweg, was an

einem schönen Frühlingstag plötzlich über die Familie hereinbricht: Edward verunglückt mit seinem Fahrrad tödlich. Die Eltern entscheiden, seine Organe zu spenden -auch seine Hornhäute. Jake ist fassungslos, wie man die so besonderen Augen seines Bruders hergeben kann, und weiß doch, dass Edward in seiner Großzügigkeit es genau so gewollt hätte.

Der Kosmos einer Familie

Ihr Interesse an Familien, ihren Strukturen und Dynamiken war der Impuls für die ersten Werke der US-amerikanischen Autorin Patricia MacLachlan und zieht sich wie ein roter Faden durch all ihre Texte. Die Art, wie sie sich literarisch diesem weiten Themengebiet annähert, ist außergewöhnlich: Da ist kein Wort zu viel und kein Wort an der falschen Stelle. Auf kaum 100 Seiten erschließt sich der ganze Kosmos einer Familie, ihrer einzelnen Mitglieder als Individuen ebenso wie ihr harmonisches Ineinanderspielen in alltäglichen Momenten, aber auch im Augenblick der alles verändernden Katastrophe. MacLachlan arbeitet extrem reduziert und schafft gerade dadurch Freiräume für eigene Assoziationen der Leser.

Edwards Augen Von Patricia MacLachlan Aus dem Engl. von Birgitt Kollmann Hanser 2010 96 S., geb.,€ 13,30

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