Virginie Despentes - Virginie Despentes - Seit ihrem Debütroman „Baise-moi“ (1994) zählt die 1969 geborene, mehrfach ausgezeichnete Autorin zu den fixen Größen im französischen Literaturbetrieb - © Foto: Imago / Agencia EFE

Plädoyer gegen Schwarz-Weiß-Malerei

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Mit ihrem neuen Instagram-Roman „Liebes Arschloch“ legt Virginie Despentes einen provokanten Gesellschaftsroman vor, in dem Debatten rund um „MeToo“ und Feminismus genauso behandelt werden wie Fragen des Alterns und des persönlichen Krisenmanagements.

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Mit ihrem neuen Instagram-Roman „Liebes Arschloch“ legt Virginie Despentes einen provokanten Gesellschaftsroman vor, in dem Debatten rund um „MeToo“ und Feminismus genauso behandelt werden wie Fragen des Alterns und des persönlichen Krisenmanagements.

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Keine Beschreibung der gegenwärtigen französischen Literaturszene, die ohne ihren Namen auskäme, keine Darstellung, die sich nicht mit ihrem Werk auseinandersetzen würde. Gleich mit ihrem Debüt „Baise-moi“ (1994) sorgte die 1969 geborene Virginie Despentes für Furore und galt als literarisches „enfant terrible“. Doch wer dachte, dass sie sich fortan mit dieser Rolle der wilden Provokateurin begnügen würde, sah sich eines Besseren belehrt. Spätestens mit ihrer „Vernon Subutex“-Trilogie (2015–2017) schrieb sie sich in die erste Reihe der französischen Literatur und wurde zu Recht für ihre so scharfsinnige wie erbarmungslose Analyse gesellschaftlicher Zustände gerühmt. Fünf Jahre ließ sie sich Zeit, ehe sie nun auf die Bühne zurückkehrt und mit „Liebes Arschloch“ (im Original: „Cher connard“) einen Roman vorlegt, der diese Zuschreibungen kraftvoll untermauert. Auf den ersten Blick scheint es, als ginge es in diesem Text um eine – leicht verspätete – Aufarbeitung dessen, was unter #MeToo in den letzten Jahren weltweit für Debatten sorgte. Dass Despentes sich auf dieses Thema einlässt, wurde in Frankreich heftig diskutiert – nicht zuletzt, weil sie es auf eine differenzierte Weise tut, indem sie versucht, einseitige Sichtweisen zu vermeiden. Doch der Reihe nach. Wer mit der derben Bezeichnung „Arschloch“ gemeint ist, klärt sich bereits auf den ersten Seiten. Bei dem so Titulierten handelt es sich um den – nicht unerfolgreichen – Schriftsteller Oscar Jayack, Anfang vierzig, der sich dazu hinreißen lässt, in einem Internetpost die knapp zehn Jahre ältere, hoch berühmte Schauspielerin Rebecca Latté zu schmähen: „Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück. Eine einzige Katastrophe.“ Diese freilich fackelt nicht lange, als ihr die Beleidigung zugespielt wird, und antwortet unzweideutig: „Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. (…) Ein Typ wie du pflanzt sich fort, die Linie könnte sonst aussterben. Leute, je bescheuerter und nutzloser ihr seid, umso mehr fühlt ihr euch verpflichtet, die Linie fortzusetzen. Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können.“ So klar die Fronten damit abgesteckt sind, so überraschend entwickelt sich der Austausch der Kontrahenten. Oscar, der immer hoffte, Rebecca für eines seiner Theaterstücke zu gewinnen, lässt sich nicht abschrecken. Er erinnert Rebecca daran, dass sie einst mit seiner Schwester Corinne in der französischen Provinz aufwuchs, und allmählich werden die Töne milder, taucht Rebecca in ihre Jugendjahre hinab und will mehr über Corinnes Werdegang wissen. Virginie Despentes inszeniert ihr Buch – so der Verlag – als „Briefroman“, der ohne kommentierende Erzählerstimme auskommt. Briefe wie zu Werthers Zeiten sind es natürlich nicht, die hier geschrieben werden, doch in ihren – unrealistisch langen – Posts nehmen die beiden Protagonisten, ohne dass Rebecca dem „Arschloch“ mit allzu großer Sympathie gegenüberträte, nach und nach Anteil am Leben des anderen. Alsbald verkompliziert sich Oscars Leben noch mehr, da sich eine junge Feministin, Zoé Katana, ins Geschehen und in den Wechsel von Posts einmischt. Sie, die einst als Pressereferentin in Oscars Verlag arbeitete, wirft ihm vor, übergriffig geworden zu sein und ihre Karriere zerstört zu haben. Mit einem Mal sieht sich Oscar mit einem digitalen Shitstorm konfrontiert. Seine Versuche, sich zu rechtfertigen – „Sie war die Frau meines Lebens. Ich vertraute ihr völlig. Nie hätte ich damit gerechnet, ihretwegen in Ungnade zu fallen“ –, sind nicht mehr als die müden Ausflüchte eines Mannes, der nicht begreift, was die Stunde geschlagen hat.

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