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Sartre vor 20 Jahren

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Vor dem Sommer brachten die Kammerspiele Sartres „Fliegen“ auf die Bühne: Grausamkeit und Qual im Herzen und Hirn des modernen Menschen, projiziert in die Staffage des Antikischen. Götter, längst vergessene Götter werden aufgeboten, um zu zeigen, wie ein Mensch sich im Netz der Schuld verfängt — und zerbricht. — Nun, nach dem Sommer, bringen die Kammerspiele „H err Lamberthie r", ein Pariser Boulevardstück aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg von Louis Verneuil. Verneuil und Sartre — ein lehrreicher Vergleich! Was Sartre unter beträchtlichem Aufwand (Philosophie, Psychoanalyse, Tiefenpsychologie müssen ihm als Hilfsregisseure dienen) in Szene setzt, geling» Verneuil mit nur zwei Personen — und einem Telephon.

Germaine und Maurice kommen von ihrer Hochzeitstafel, sie schimmern und scheinen eitel Glück und Seligkeit. Ihre nette, kleine Wohnung ladet zu einem Leben der Freude, zumindest redlicher Arbeit und frohen Genusses ein. Nein, es wird kein kleines Paradies werden, sondern eine richtige Hölle. Als Fatum, als Schicksal, als „Jupiter“, als grausam seinen Zoll fordernder Götze verschat- tet, vom Hintergrund her, „Herr Lamber- thier“ die Bühne dieses kleinen Lebens, und hält (er ist der Jupiter Verneuils) die beiden angstbeklommenen Menschenfischlein — Germaine und Maurice — an zwei Angelhaken: es sind dies die Lüge Germaines, die es niemals (bis es zu spät ist) wagt, ihrem Mann die ganze Wahrheit über ihr Vorleben zu sagen — und es ist das Mißtrauen, die Eifersucht, die kranke Liebe Maurices, die ihn immer wieder zu neuen Quälereien seiner Frau treibt. Schließlich sogar zum Mord — an Herrn Lamberthier… Immerhin — wie sauber das Ende bei Verneuil, dem existentialistischen Porträtisten einer späten Welt! Maurice und Germaine bekennen sich schuldig, der Mann stellt sich dem Gericht. Bei Sartre: Orest beschimpft maßlos-sinnlos Jupiter, sein Gewissen, seine Welt — und flieht.

Warum wird dieser Verneuil heute in Wien gespielt? Wir wissen es nicht. Warum besprechen wir ihn hier? Weil uns der Hinweis nicht unbeachtlich erscheint, daß das, was ein Sartre heute mit so viel modischen Kniffen und weltanschaulichen Taschenspielertricks al Neuigkeit vor das Forum der Weltöffentlichkeit bringt — die absolute

Ausweglosigkeit und Verzweiflung eines lückenlos in sich selbst verschlossenen egozentrischen Menschseins, daß all das ein alter Routinier des Theaters bereits vor 20 Jahren mit seinen bühnentechnischen Kunststücken primitiver, aber ehrlicher offener zur Darstellung gebracht hat.

Zudem: Die Schweizer Schauspielerin Anne Marie Blanc, dem österreichischen Publikum vom Film her bekannt, ist eine wirkliche Künstlerin. Ihr Spiel reißt selbst Siegfried Breuer aus seiner Schablone und zwingt ihn zu einer beachtlichen Leistung.

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