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Frank McCourts Erinnerungen an sein Lehrerdasein.

Davon haben wir nichts gewusst", war die stereotype Antwort, wenn man die Menschen der Kriegsgeneration nach dem Holocaust fragte - eine Antwort, die niemanden so recht überzeugte. "Davon haben wir nichts gewusst" hat auch der in London lehrende Historiker Peter Longerich sein jüngstes Buch überschrieben. Es rollt die alte Frage, was die Deutschen nun wirklich vom Völkermord an den Juden wussten, neu auf.

Aber wo die Antwort suchen, wenn der Erinnerung der Überlebenden nicht zu trauen ist? Man muss in den Dokumenten jener Zeit nachforschen. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn wer in einer Diktatur sagt und schreibt schon, was er denkt? Die Historiker haben sich daher notgedrungen auf die "Stimmungsberichte" gestützt, die Gestapo, NSDAP und Propagandaministerium zu erstellen pflegten. Das Regime schickte seine Spitzel regelmäßig in Wirtshäuser und Straßenbahnen, um sich ein Bild von der Stimmung im Volk zu machen.

Den Berichten zufolge haben die meisten Deutschen die Judenverfolgung zwar sehr wohl registriert, vom ersten Boykott jüdischer Geschäfte 1933 bis zum Völkermord der vierziger Jahre. Aber nur wenige haben in sichtbarer Weise darauf reagiert, sei es nun zustimmend oder ablehnend. Mit anderen Worten, die Mehrheit verhielt sich "indifferent" - ein Befund, der so viele Fragen aufwirft, wie er beantwortet.

Zweifel an den Berichten

Longerich stellt den Aussagewert der Stimmungsberichte grundsätzlich in Frage. Er bezweifelt, dass es unter der NS-Diktatur eine "öffentliche Meinung" gab, die sich demnach auch nicht in den Berichten widerspiegeln könne. Im Gegenteil, die Berichte müssten selbst als Instrumente zur Formierung der Öffentlichkeit betrachtet werden. Longerich wählt daher einen anderen Weg.

Er zeichnet die antijüdische Propaganda des Nazi-Regimes minutiös nach, wobei er neben den internen Berichten ein breites Spektrum von Zeitungen heranzieht. Sein Befund: Die Propaganda verlief über die Jahre nicht gleichmäßig, sondern in Wellen und sie ging mit Repressionen einher. Von Welle zu Welle radikalisierte sich die Propaganda, die zwar nur selten die an Juden ausgeübte Gewalt offen und konkret thematisierte, die Deutschen jedoch auf den Völkermord einschwören sollte und, daran lässt auch Longerich keinen Zweifel, tatsächlich zu seinen Mitwissern machte.

Von der Propaganda und ihren Wechselwirkungen zieht Longerich Rückschlüsse auf die Haltung der Deutschen. Diese hätten der immer radikaleren Judenverfolgung wachsenden "Unwillen" entgegengesetzt, einen Unwillen, der sich unter der Diktatur aber nicht zum Widerstand organisieren konnte, so dass die unwilligen Mitwisser in den letzten Kriegsjahren die Flucht in die Ahnungslosigkeit antraten: "Davon haben wir nichts gewusst!"

So beachtlich Longerichs Analyse der NS-Propaganda ist, das Gesamtbild bleibt in dieser "Top-down"-Perspektive eindimensional. Überspitzt gesagt: Das Verhältnis zwischen Volk und Führung gleicht dem zwischen einem Esel und seinem Herrn, der sein störrisches Tier nur durch Karotte und Peitsche auf Trab halten kann. Der aktive Beitrag der deutschen Gesellschaft zur Judenverfolgung bleibt unterbelichtet.

Darum ist es nützlich, auch eine kleine Studie von Frank Bajohr zur Hand zu nehmen. Bajohr, durch seine Forschungen zur "Arisierung" jüdischen Eigentums ausgewiesen, konnte auf das Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zurückgreifen, wo viele Alltagszeugnisse - Tagebücher, Briefe und anderes - aus dem Dritten Reich aufbewahrt sind. Auf dieser Basis diagnostiziert er einen "antijüdischen Konsens" zwischen Nazi-Führung und deutschem Volk, der sich nicht zuletzt aus der gemeinsamen Gier nach jüdischem Besitz nährte, der aber in dem Maße brüchig wurde, wie die "Judenpolitik" immer gewaltsamere Züge annahm.

Wichtige Ergänzung

Mit anderen Worten: Die meisten Deutschen billigten Raub und Ausgrenzung, aber nicht Mord und Totschlag und verschlossen daher Augen und Ohren, als die Juden nach Osten deportiert wurden und Gerüchte von Massenexekutionen und Giftgas die Runde machten. Obwohl Bajohrs Studie im Vergleich zu Longerichs Werk eher eine historische Skizze ist, ergänzt sie dessen Befunde doch in wichtigen Punkten. Wer etwas über das Verhältnis der Deutschen zur Judenverfolgung 1933-1945 erfahren will, sollte daher an diesem Bändchen nicht vorbeigehen, das zudem einen lesenswerten Beitrag über den Holocaust in der internationalen Öffentlichkeit jener Zeit enthält.

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945

Von Peter Longerich

Siedler Verlag, München 2006

448 Seiten, geb., e 25,70

Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten

Von Frank Bajohr und Dieter Pohl

C. H. Beck Verlag, München 2006

156 Seiten, geb., e 19,50

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