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Stadt in Aufruhr

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Nach Pescara ist es jetzt Reggio di Calabria, die Hafenstadt am Stiefelabsatz der Apenninenhalbinsel, die ein chaotisches Bild der Zerstörung bietet. Und während es in der Adria-Stadt bei den Zusammenstößen zwischen Uniformierten und Demonstranten „nur“ zu Dutzenden von Verletzten und wenigen Verhaftungen kam, sind in Kalabrien jetzt ein Toter, zahlreiche Verhaftungen und Sachschaden von Milliarden Lire zu beklagen.

Der Anlaß der kleinen Revolution von Reggio bot, wie in Pescara, die voraussichtliche Einrichtung der Regdonalämter in seiner altehrwür-ddgen Binnenstadt, die hofft, das Prädikat „Kapitale der Region“ würde ihr zu neuem Glanz und vielen Pfründen verhelfen. Im Falle der Abruzzen ist es Aquila, in Kalabrien hingegen Catanzaro, dem nach den Plänen Roms und seiner verlängerten Arme in der Provinz die Ehre hätte zufallen müssen. Die Bewohner von Reggio di Calabria fühlten sich zusätzlich benachteiligt, als in der Hauptstadt beschlossen wurde, Co-senza die erste und voraussichtlich letzte und einzige Universität, Kail* brien zuzuteilen. „Reggio lebt ja vom einträglichen Hafengeschäft und der Verschiffung all der geldbringen-den Touristen, die nach Sizilien reisen. Überdies ist es wie Pescara bereits Hauptstadt einer relativ aufblühenden Provinz“, sagten sich die Herren von Rom, in der Hoffnung, versunkenen Städtchen im Landesinneren nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit entgegenzukommen.

In Reggio di Calabria sieht die Sache anders aus. Der wirtschaftliche Boom ist vor Jahren zum Stillstand gekommen. Der bescheidene Fortschritt erweckte unmögliche Ansprüche nach nordischem Muster. Viele Erwartungen blieben hier aber kurz vor der Erfüllung frustriert, und das bedeutet im konkreten Fall zum Beispiel den Verlust eines auf Raten bezogenen Autos oder Fernsehempfängers.

Die allgemeine Teuerung wird im Mezzogiorno vor allem von jenen wahrgenommen, die keine Selbstversorger und auf Industrieprodukte aus dem Norden des Landes angewiesen sind. Seit dem Kriegsende sehen sich viele Bewohner von Reggio genötigt, nach Norditalien oder ins Ausland auszuwandern, um wenigstens auf einen kleinen grünen Zweig zu kommen.

Unter solchen Vorzeichen ist die Suche nach dem Sündenbock wie bei allen Übeln unvermeidlich. Und auch in Kalabrien wird der Fehler nicht bei sich selber, sondern bei anderen, dem Norden, „der es besser hat“, und vor allem bei Rom, das alles, auch die Zuteilung der Regionalhauptstadt, nach wie vor entscheidet, und den Repräsentanten der Staatsgewalt gefunden. Die teilweise sogar blutigen Vorkommnisse der letzten fünf Tage haben gezeigt, daß Cara-binieri und Polizisten, vor allem letztere, die Zielscheibe Nummer 1 all der Ressentiments sind. Ihre bloße Anwesenheit in großer Zahl genügte, um die Volkswut zu entfachen. Ostentativ führte der Leichenzug mit dem bei den Zusammenstößen getöteten Eisenbahner Bruno Labate am Sitz der Behörden auf dem „Italienplatz“ vorbei. Nur der klugen Zurückhaltung der stationierten Truppen (und Drahtzieher in Rom im Hintergrund) ist es zu verdanken, daß die kleine nicht in eine große Revolution einer ganzen Stadt ausartete.

Anderseits gilt es, das scheinbar unerklärlich explosive Verhalten der Bewohner von Reggio zu verstehen statt zu verurteilen. Seit acht Jahren wird ihnen fast täglich durch Radio, Fernsehen und Presse vor Augen geführt und eingehämmert, daß es blutiger Protestaktionen bedürfe, damit Rom irgendein Problem zur Kenntnis nehme und wenigstens verspreche, dn nützlicher Frist für Abhilfe zu sorgen. Daß es den Gewerkschaften seit Jahr und Tag gelungen ist, auch nationalökonomisch ungerechtfertigte Forderungen

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