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Minotaurus als moderner Stadtwolf: Thomas Ballhausens Prosa "Die Unversöhnten".

René Altmann pflegte seinen Lyrikminiaturen statt Überschriften Werknummern voranzustellen, weshalb der Verleger der Eremitenpresse V. O. Stomps sie mit der Bemerkung abgewiesen haben soll: "Das sind die Gedichte eines Buchhalters. Ich lese keine Verse, die numeriert sind."

Auch Thomas Ballhausen liebt numerische Systematiken und wendet sie in seinem neuen schmalen Prosaband "Die Unversöhnten" erneut an. Dass die zu den einzelnen Ordnungszahlen gehörenden Textstellen oft nur wenige Zeilen umfassen, hat einen Kritiker dazu verführt, sie als "aphorismusartig" zu bezeichnen. Doch das sind sie mitnichten, vielmehr ergeben die optisch fragmentierten Passagen eine überraschend einlässig erzählte Geschichte, auch wenn ein üppiges Set an Motti, Anspielungen und Intertexten eine Art doppelten Boden einzieht. Die Sprache ist eher konventionell und kippt mitunter wohl bewusst ins Antiquierte: Der Held schreitet, passiert geborstene Mauern, wähnt das eine und verstaut das andere.

Das erklärt sich aus dem Stoff wie aus einem der Bezugstexte. Den ahnt man schon lange, bevor der Autor kurz vor Schluss der Erzählung und mit einer großen Geste der Distanzierung einen Belegsatz einbaut: "Wer an dieser Küste lebte, der lebte und starb im Verborgenen unter den Steinen wie eine Assel." So ist im ersten Kapitel von Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt" zu lesen, dem wohl erfolgreichsten Versuch, antike Mythen in die Gegenwartsliteratur zu transponieren.

Zunehmend verwüstet

Das macht auch Ballhausen mit seinem Helden. Es ist Asterios alias Minotaurus, der Stiermensch, der als Untoter den Untergang der antiken Mythen überlebt hat und in diesem Text mit dem Bild des modernen Stadtwolfs überblendet wird. Wie Ransmayr konfrontiert Ballhausen seinen Minotaurus mit einer - hier von unerklärten Kampfhandlungen - zunehmend verwüsteten Umgebung, mit einer schon leicht veralteten Zivilisation noch vor der Erfindung des Handys, aber auch mit seiner eigenen Einsamkeit, seinen Liebesenttäuschungen und flüchtigen Begegnungen.

Details aus dem Mythos

Ungeliebt und verleugnet von der Mutter - die an ihren Fehltritt mit Poseidons Stier nicht gern erinnert wird - irrt der Stiermensch von heute durch die Straßen von Gestern und trägt an den Flüchen von Vorgestern. Die ereilen ihn in Form anonymer Schreiben, die ihn zum Auftragskiller machen. Auf Erzählebene erledigt er seine Aufgaben diskret und unspektakulär, es ist ein leiser Ton, mit dem Ballhausen die Abenteuer und Befindlichkeiten seines Helden erzählt. Immer wieder werden Details aus dem Mythos eingespielt; für eine Reminiszenz an sein von Daedalus erbautes Gefängnis auf Kreta etwa genügt Minotaurus das Labyrinth der Bahngleise ebenso wie das in den Geduldspielen für Kinder, bei denen es gilt, eine Reihe von Kugeln in die richtigen Löcher zu platzieren.

"Die sich weiter ausdehnende Katastrophe bewegt sich wie ein eigenständiges Lebewesen durch die Straßen, alles durchdringend und mit einer neuen Botschaft infizierend." Mit solchen Sätzen, die wie im Mythos letzte Erklärungen verweigern, bleiben die Zusammenhänge etwas verrätselt, aber es passt zur Stimmung der Erzählung, wenn "die Natur der Katastrophe … immer noch neue Formen" annimmt.

Die Unversöhnten

Prosa von Thomas Ballhausen

Skarabaeus, Innsbruck 2007

98 Seiten, kart., € 14,90

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