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Digital In Arbeit

„…suche mich xu verändern „

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Meine sehr verehrten Herren! Ich, der Ururenkel des Barbiers von Sevilla, suche mich zu verändern. Konkreter gesagt, ich suche einen neuen Posten, richtiger gesagt: eine neue Lebensaufgabe. Denn die Welt macht derzeit eine Revolution durch, die mich, den Nachkommen des Barbiers von Sevilla, und allen, die dem gleichen Beruf angehören, hinwegzufegen beginnt. Ich und alle meine Berufskollegen fangen an, überflüssig zu werden. Grund: die langsame, aber stetige Verbreitung des elektrischen Rasierapparates. Wer von Ihnen, meine Herren, benötigt noch meine Dienste? Es werden immer weniger. Eines Tages werde ich arbeitslos sein. Und deshalb muß ich schon jetzt beginnen, mich um eine neue Lebensaufgabe umzusehen.

Klopfen Sie mir nicht, meine Herren, jetzt wohlwollend auf die Schulter und sagen Sie mir ja nicht, ich könnte ja Friseur bleiben. Ein Friseur ist doch etwas ganz anderes als ein Barbier. Sich die Haare schneiden lassen ist eine — manchmal — drückende Pflicht, die man über sich ergehen lassen muß und die man durch Lektüre von Zeitschriften zu erleichtern versucht. Zu einem Ausruhen oder einer Konversation ist hier kein Platz. Was aber stellte die Zeit, die man beim Barbier verbrachte, dagegen für Ruhestunden dar! Während der Kunde im Sessel zurückgelehnt lag und wir ihm langsam die Wangen einseiften, begann für ihn eine wirkliche Viertelstunde des Ausruhens. Er konnte sich entspannen, er konnte vor sich hinträumen, er konnte meditieren. Er war eine Weile frei von allen Sorgen des Berufes, des privaten Lebens. Dank des Einseifens war ihm der Mund verschlossen und er konnte nicht mehr reden, sondern nur noch zuhören. Konnte hören auf jene Geschichten, die wir ihm so nebenbei ins Ohr flüsterten. Konnte hören auf jene kleine Nachricht, auf jenen kleinen Tratsch, jenen kleinen Scherz. Wir Barbiere waren ja Meister der Psychologie, wir erzählten jedem die Nachricht so, wie sie für ihn wichtig war, zum Unterschied von den modernen Nachrichtenbüros, die ihre Meldungen gleichartig für Millionen von Menschen ausspeien. Außerdem waren wir eine Art Privatkuriere unserer Kunden, die besser und schneller als die amtliche Post so manchen Brief, so manches kleine Paket überbrachten. Obwohl wir doch niemals die Wahrung des Briefgeheimnisses beschworen hatten, konnte man unserer Verschwiegenheit sicher sein, zum Unterschied von manchen Staaten, die munter die Briefe öffnen. Du lieber Himmel, was hatten wir doch für eine wichtige soziale Funktion!

Doch dann begann plötzlich die Entthronung. Sie setzte ein, als irgendein Amerikaner, er nannte sich King Gilette, aus purem Geschäftsgeist die Rasierklinge erfand und jeden damit in die Möglichkeit versetzte, sich selbst zu rasieren. Zuerst schien dies ein Triumph für uns: gab es doch plötzlich nicht nur Hunderte und Tausende von Berufsbarbieren, sondern Millionen von Amateurbarbieren. Und wie es schon so oft bei Amateuren ist: sie sind oft auch krasse Dilettanten. W i r, die Berufsbarbiere, w i r schnitten keinen unserer Kunden in die Wangen. Aber diese Selbstrasierer liefen ständig mit zerschnittenen Gesichtern herum, daß jedem echten Barbier das Herz bluten mußte über das Bluten der diversen Wangen. Natürlich- infizierten sich diese Pfuscher ständig und liefen mit allen möglichen Ausschlägen im Gesicht herum. Das wiederum schrie nach Abhilfe. Aber statt die Menschen wieder von ihrem Dilettantismus abzubringen und zu uns Berufsbarbieren zu senden, kam man auf eine neue Idee: man erfand den elektrischen Rasierapparat, Du liebe Güte: was hat man damit angestellt! Wie viele Industrien werden allein schon durch diese Erfindung zugrunde gehen: die Seifensieder, die Klingenerzeuger, die Schleifmaschinenfabrikanten, die Pinselmacher die Pinsel zu fabrizieren verstanden, die wie weiche, zärtliche Frauenhände über die Wangen der Männer streichen konnten, die Rasierwasserfabrikanten die dem Mann die Gelegenheit gaben, um sich einen kaum spürbaren herben Duft auszustrahlen, den Frauen nur bemerkten, wenn sie Männern zu nahe kamen. Alles vorbei. Und auch unsere Existenz ist vorbei, die der Barbiere. Natürlich hatten wir durch Gilette enorm vie’e Kunden verloren, aber einige treue waren uns verblieben. Vor allem war in der Theorie unsere Existenz unangefochten: den man konnte sich entweder allein oder bei uns barbieren. Zu irgendeinem Barbier mußte man gehen. Das ist vorbei. Der elektrische Rasierapparat vernichtet uns und diese Pfuscher von Selbstrasierern. Was für ein Kulturverlust neben allen den materiellen ist doch auch unser Verschwinden! Diese kleinen Ruhestunden der Männer bei uns sind endgültig vorbei, die kleinen Nebendienste, die wir unseren Kunden leisteten, werden andere verrichten — die sich dafür bezahlen lassen. Ein heutiger Herr von Rossini wird keine Inspirationen für die Abfassung einer Oper „Der Barbier von Sevilla“ mehr finden und ebensowenig ein Cavaliere Mozart für eine „Hochzeit des Figaro“.

Was für ein schreckliches Symptom ist daneben noch das Aufkommen des elektrischen Rasierapparates: ein Zeichen, wie wenig Zeit die Menschen für sich haben. Früher, als man überhaupt Zeit hatte, hatte man auch Zeit zum Barbier zu gehen, heute spart man Zeit mit dem elektrisch Rasieren und wird noch weniger Zeit haben. Wann werden Sie außerdem, meine Herren, noch in die Spiegel schauen? Wahrscheinlich überhaupt nicht mehr. Mit diesem schrecklichen Ding können Sie sich ja im Finstern ohne Spiegel rasieren. Mit der Zeit werden Sie durch dieses Nicht- in-den-Spiegel-Schauen den größten Illusionen verfallen. Während sie sich nämlich für eine Ausgeburt an Schönheit halten, werden Sie vielleicht in Wirklichkeit eine Grimasse darstellen. Und das alles geschieht unter dem Titel ,Hygiene’. Wäre das nicht auf andere Weise zu erreichen gewesen?

Nein, mir kommen direkt die Tränen in die Augen, wenn ich an alle diese Umwälzungen denke. Mir, dem doch sonst so Vergnügten und immer zu Späßen Aufgelegten. Mir bricht das Herz, wenn ich an die kommenden Ereignisse denke. Ich will das gar nicht mehr mit ansehen. Deshalb suche ich schon jetzt einen neuen Posten, der ein menschliches Dasein noch etwas verbürgt. Wissen Sie vielleicht, meine Herren, etwas von solch einem Posten? Dann antworten Sie auf mein Inserat, das ich am nächsten Sonntag in den Zeitungen veröffentlichen werde unter dem Titel ,Der Ururenkel des Barbiers von Sevilla sucht sich zu verändern’.“

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