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Triumph der W issenscliaft

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Gegen halb zehn Uhr vormittag rief mich Monsieur Poiret zu sich. „Kennen Sie Duvalier?“ fragte er und sah mich von der Seite an, „Pierre Duvalier, den Mann mit den toten Augen?“ Es klang nach Vorstadtmagazin, nach knalligen Pointen und dunklen, blutrünstigen Uber-raschungen. „Pierre Duvalier, den Mann mit den toten Augen?“ Mon Dieu, ich werde nie vergessen, wie er aufsprang und förmlich außer sich geriet, als er erfuhr, daß Pierre Duvalier ein mir völlig Unbekannter sei, ja, daß ich sogar den Namen eben erst in dem Augenblick, da ich darum gefragt worden war, zum erstenmal vernommen hatte. Wahrhaftig, es war kein alltäglicher Anblick, der sich mir bot, als Monsieur Poiret vor Freude beinahe zu hüpfen begann und mich am liebsten an seine Brust gezogen hätte, obschon er ansonst keiner von den allzu Höflichen war und seinen Gefühlen nur dann freien Lauf ließ, wenn sie sich auf die Minusdinge des Lebens bezogen. Nun aber glänzte er förmlich vor Entzücken. „Junge...“ rief er und tanzte wie besessen um mich herum, .Junge, Junge, daß du ihn nicht kennst... daß ... dir der Name noch niemals untergekommen ist... Junge... Junge ...“ und duzte mich dabei, ohne daß wir vorher auch nur ein einziges Mal im Jardin de Cascagnard gewesen wären ... Begeistert klatschte er in die Hände. Dann aber wurde er plötzlich ernst. „Es ist nämlich... wenn du ihn nicht kennst, ein so findiger Reporter wie du, dann ... dann ...“ Erleichtert atmete er auf. „Und ich dachte schon, Monsieur le Docteur habe bloß geflunkert, um die Schürze noch tiefer gefüllt zu bekommen ...“ Voll Eifer rieb er sich die Hände. Und ich? Ich stand dabei und wußte mir auf seine Worte keinen Reim zu machen. „Doch nun... was sagt denn dein Gedächtnis zu Tourrain, zu Leonard Albert Tourrain... wenn du mir nun etwa gar weismachen willst, auch von ihm noch nichts gehört zu haben, Junge, dann...“ Gleichsam schäkernd zwinkerte er mir zu. „Leonard Albert Tourrain...“ genießerisch spitzte er die Lippen, als schlürfte er grünen, eisgekühlten Chartreuse. „Ja, ja, mein Junge“, lachte er plötzlich los und schlug mir auf die Schultern, „du tippst schon richtig, alter Freund, Tourrain, der gestern vor einer Woche hingerichtet wurde, Tourrain... Tourrain... übrigens kaum der Rede wert, als Täter, meine ich, drei Zeilen in der Zeitung ... und ... und dabei doch...“ Sein Atem benetzte seine Wangen. Sein Bärtchen sträubte sich vor

Vergnügen.....und dabei doch! Welch

kapriziöser Bursche! Hat seine Augen, bevor er starb, verschenkt, hörst du ... hat seine Augen, bevor er starb, verschenkt... in einem Anfall von ... von ... der liebe Himmel mag wissen, warum...“ Dröhnend schlug die Uhr von St-Etienne-du-Mont. Da zuckte Monsieur Poiret zusammen. „Und jetzt, mein Junge, lauf, rasch, rasch ins Hospital, denn kaum eine halbe Stunde noch und... und von den Augen Duvaliers ... o welch Triumph der Wissenschaft ... welch große Sensation ... Es wird die Auflage verdrei-... verfünf- — verzehnfachen ... Daß dir nur ja kein Wort, kein einziger Handgriff entgeht... der Bericht... mein Junge, der Bericht es ist die Chance deines Lebens...“ Wie trunken sprach er auf mich ein ...

Erst unterwegs gelang es mir, mich wenigstens etwas zurechtzufinden, wenn auch die Worte des Besessenen noch immer wie wilde Hummeln in meinen Ohren durcheinandersummten ...

Kaum eine halbe Stunde noch und von Pierre Duvaliers Stirne und Wangen wird die dunkle Binde genommen werden, kaum eine halbe Stunde noch und... und ... das hieß, wenn ich recht verstanden hatte, daß dann ein... ja, ja, man konnte es nicht anders nennen, ein Wunder sich vollziehen sollte ... ein Wunder,Pierre Duvalier sollte dem Leben wiedergegeben werden, der Welt, dem Licht, den Farben ... Pierre Duvalier, und zwar mit Hilfe der Augen Leonard Albert Tourrains, eines Mörders, dessen letzter Wunsch es gewesen war, seine Augen ... seine Augen zu ... verschenken ... Pierre Duvalier... O ganz stark empfand ich plötzlich für ihn, von dem ich vor noch nicht zwanzig Minuten nicht einmal den Namen gewußt hatte und der mir auch jetzt noch ein völlig Fremder war, und dessen Schicksal mich trotzdem schon zutiefst bewegte... Strahlend stieg die Sonne dem Mittagshimmel zu, wie flüssiges Blei troff die Hitze von den glühenden Dächern herab. Atemlos lief ich dahin. Doch je mehr ich mich der Rue Saint-Antoine näherte, um so langsamer wurde mein Schritt, um so heftiger begann mich die Hitze zu quälen und um so stärker flogen meine Pulse und plötzlich, plötzlich hatte eine rasende Angst von mir Besitz ergriffen, die Angst: was dann, wenn die Operation mißlungen war? Oh, niemals noch war ein Mensch so ganz in mir gewesen wie dieser fremde, blinde Pierre Duvalier. Ziternd nur drückte ich die Tür zu dem Hospital zurück...

Und da, da lag er nun, bewegungslos, das Antlitz mit einem weißen Tuch verhüllt, darunter sein Atem nur wie heimlich ging, die Hände bleich und schwer, die Füße seltsam, beinahe krampfhaft hochgezogen, ein Mensch voller Hoffnung und... und Todesnot. Oh, jetzt an seiner Stelle sein zu müssen! Und wieder trat mir der Schweiß auf die Stirne wie vorhin, als ich durch die glühenden Straßen gelaufen war. Welch zitternde Erwartung, o nein, welch dumpfes, steinernes Verharren, welch gleichsam zu Eis gewordenes Erleben...! Jäh unterbrach der Assistenzarzt meine quälenden Gedanken. Unhörbar trat er neben mich. Wie Schüsse klangen mir seine Worte durch das Schweigen, wie Klirren von brechendem Glas, obschon er sicherlich nur flüsterte... „Zum erstenmal und... und eine sehr gewagte Sache und...“ Nur er konnte es gewesen sein, der zu Poiret davon gesprochen hatte, er, dessen Schürze nun einem solch dunklen Verdacht ausgesetzt war. Da aber drehte sich die Schwester um und legte den Finger an den Mund. Knurrend verließ mich mein Protektor wieder. Karbolgeruch erfüllte das Gemach, aus allen Winkeln, allen Ecken strömte es auf mich ein, verschlug mir den Atem, verwirrte mir die Sinne und... Nur jetzt nicht wankend werden, nur jetzt nicht schwach, nicht zaghaft, klein, erbärmlich ... nur jetzt... Mein Gott, wie schwarze Vögel kreisten die Gedanken ... Ach, für Sekunden zerstreute frischere Luit den Karbolgeruch ... hoch und schlank, mit glatter Stirne und weißem Haar war der Professor eingetreten. Und in dem Augenblick, kaum das die Tür wieder ins Schloß gefallen war, in dem Augenblick, wie einer fernen, fremden Stimme lauschend, richtete sich Duvalier in seinem Bette auf und — sah um sich.- So seltsam es auch klingen mag, ich fand kein anderes Wort dafür, trotz seiner dicken Binde um Stirne und Wangen, er sah um sich'... Ja, ja, er sah um sich und seine Lippen bebten. „Ach“, murmelte er, „ach“, es war wie leises Weinen, „ich sehe Not... Ich seh... große Not...“

Erschrocken war die Schwester aufgesprungen, nun legte sie den Arm um seine mageren Schultern. Er aber seufzte nur. „Ich sehe Hunger... ich sehe Ermüdung ... ich sehe nur Nacht...“ Da lachte die Schwester auf. „Nicht doch, mein Kind“, lachte sie auf, „so etwas kann man ja gar nicht sehen.“ Pierre Duvalier aber hörte sie nicht einmal, Pierre Duvalier, der bei einem Sturm um das Licht beider Augen gekommen war. „Ich sehe es wie Tiere... Tiere in grauen Käfigen ...“ Ein fremder und wie von wilden Ekeln gezeichneter Zug lag plötzlich um seinen schmalen, schmerzlich verzogenen Mund. „Blut...“ schrak er zusammen, „Blut...“ und selbst seine Hände wurden schneeweiß. Aufstöhnend sank er zurück. Zitternd begann er sich zu wälzen, von einer Seite auf die andere... die Decke zerwühlend, in Schweiß gebadet... „Im Käfig... die Tiere...“ Wieder trat der Assistent neben mich, murmelte mir erklärende Worte ins Ohr, Worte, in einer Sprache, von der ich nichts verstand, Worte, fremd und kalt wie dunkle Steine. Verwirrt fuhr ich zusammen. Für Sekunden hatte ich Monsieur Poirets heißen Atem meine Wangen benetzen gefühlt...

Da lag er nun, Duvalier, ein fremder Mensch, ein völlig fremder Mensch für mich und dennoch, als wäre er der eigene Sohn, so zitterte ich um ihn. Warum denn der Professor nur so lange wartete? Warum er schwieg und wie versteinert in der Mitte des leuchtenden Zimmers stand... Da lag er nun, Duvalier, und seine Lippen zuckten. Und seine Finger flogen. Und plötzlich, plötzlich brach ein Schrei aus seinem Mund, ein Schrei wie von Tieren in Todesangst, wie von Tieren, die man zur Schlachtbank schleppt, ein Schrei, röchelnd wie in höchster Not... und... wie mitten entzweigeschnitten. „Ach, Herr Professor...“ stammelte die Schwester, „ach, lieber Herr Professor...“ Der aber hieß sie schweigend sich gedulden. Und dann, als ob gleichzeitig mit dem gräßlichen Schrei jede Lebenskraft aus dem zermergelten Körper des Kranken gewichen wäre, es drang kein Laut mehr über seine Lippen. Schweigend, ein armes, entgöttertes Bündel Mensch, so lag er auf seinem verwüsteten Bett, Pierre Duvalier, ein fremder bre-tonischer Fischer. Da klang die Stimme des Professors durch die Still. .Nun...

geht... er... den... schmalen... Weg...“ Es war wie ein tiefes Rätsel. In bebender Gespanntheit bohrten sich die Blicke des Sprechenden förmlich in das verdeckte Antlitz des Liegenden ein. „Ob dir vergeben wird ... Tourrain .. Erschrocken sah die Schwester auf, Verwirrung machte sich auf ihrem Antlitz breit. „Duvalier...“ verbesserte der Assistent. Doch der Professor wehrte verächtlich ab. Auch seine Wangen standen wie im Fieber. Nun aber, als er zutrat auf den Kranken und ihm leise und mit kaum merklichen Bewegungen die Binde von den Augen nahm, da schien er ruhig wie zuvor. Nur seine Stimme bebte, als er sprach: „Sag uns ... das Urteil... Duvalier ... ob wir... auch... hoffen dürfen ...“ Verwundert schüttelte der Assistent den Kopf. Doch wagte er diesmal keine Widerrede, so schwieg er denn und sah nur stirnrunzelnd vor sich hin. Und da ... da ... wie dicke, weiße Nebel begann es um mich zu wogen, ein Kreisen, Wirbeln, Dröhnen ... langsam, ganz langsam richtete Duvalier sich auf, langsam, ganz langsam ... und sagte plötzlich mit lauter und tiefer Stimme, mit einer Stimme, die wie ein Leuchten sich erhob und unsere Seelen ganz erfüllte: „Groß ist Gott... o ... groß ... ist... Gott..

Schluchzend sank der Professor in dl Knie und selbst der geschwätzige und anscheinend über alle Maßen nüchterne Assistent nickte feierlich verwirrt mit dem Kopf dazu ...

Und nun lauf, mein Freund, es wird die Auflage verdrei-, verfünf-, verzehnfachen. Welch großer Triumph der Wissenschaft! Stand nicht Poiret vor mir, Poiret mit seinem heißen Atem und seiner Gier nach dem Bericht über das Schicksal Leonard Albert Tourrains, will sagen, mit seiner Gier nach dem Bericht über das Schicksal Pierre Duvaliers ...

Kühl ging der Wind durch die Straßen von Paris und in den Parks, die Bäume, sie lohten so hell und frisch, als war' ein neuer Frühling angebrochen. Und alle Fenster standen weit, weit offen, und Kinder sangen in den Höfen. Und was die „Gazette du Matin“ betraf, sie brachte am nächsten Morgen wie alle anderen Zeitungen, auf dem Titelblatt und in faustgroßen Lettern: „Wir siegen in Vietnam..

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