Victor Léon: wiederentdeckter Librettist

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Aus Anlass des 70. Todestages von Franz Lehár hat das nach dem berühmten Komponisten benannte Festival in Bad Ischl heuer "Das Land des Lächelns" programmiert. Der Operetten-Welterfolg aus dem Jahre 1929 geht auf ein Libretto von Victor Léon zurück, der -kaum bekannt -zu seiner Zeit wesentlich bedeutender als Lehár war. Dass Léon beinahe ganz aus dem Blickfeld verschwand, während Lehár bis heute internationalen Ruhm genießt, geht auf eine anhaltende antisemitische Haltung gegenüber vielen (jüdischen) Operettenkünstlern und der systematischen Diffamierungs-und Vernichtungspolitik durch die Nationalsozialisten zurück. Die Tatsache, dass sie vertrieben, verfolgt oder ermordet wurden bzw. ins Exil gehen mussten, bewirkte, dass viele der Operettenlibrettisten in Vergessenheit gerieten. So wurden Victor Léons Werke zwar in der NS-Zeit gespielt, sein Name wurde aber wegen der jüdischen Herkunft "totgeschwiegen".

Lange hielt sich auch die Behauptung, dass Franz Lehár Victor Léon als Librettisten entdeckt habe, doch das Gegenteil ist der Fall: Schließlich war Léon einer der produktivsten österreichischen Schriftsteller des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er verfasste weit über 100 Bühnenwerke, darunter zahlreiche Operettentextbücher, aber auch Volksstücke, Komödien und Opernlibretti.

Die Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Barbara Denscher geht in ihrer 2017 erschienenen Werkbiographie der Bedeutung und Rolle des Librettisten Victor Léon (1858-1940) ebenso nach wie der Frage nach dem negativen Image der Operette. In Bad Ischl sprach sie Ende August über die Beziehung zwischen den beiden Künstlern und räumte mit vereinfachenden Zuschreibungen und falschen Behauptungen auf. Immerhin arbeitete Barbara Denscher jahrelang am literarischen Nachlass des Librettisten und verfasste eine Werk-Biographie fern von Klischees.

Manuskripte, Briefe, Dokumente

Die Ergebnisse ihrer Recherche lesen sich als spannende Geschichte eines Genres, eines Künstlers und einer historisch und politisch bewegten Zeit, deren Bezüge zur Gegenwart lebendig gemacht werden. Barbara Denscher hat sich als erste mit den Manuskripten, Briefen und Dokumenten von (und zu) Victor Léon auseinandergesetzt.

Sie verbindet in ihrem Buch das ereignisreiche Leben des 1858 im slowakischen Senica geborenen Victor Hirschfeld mit kulturgeschichtlichen Aspekten und der entscheidenden Frage nach dem Vergessen dieses -sowie vieler anderer erfolgreicher -Autors bzw. Autoren. Genau beobachtet sie Aussagen von Zeitgenossen und Entwicklungen bzw. Fortschreibungen von Spekulationen, die oft mehr der beliebten Tratsch-Leidenschaft von Bühnenleuten folgen als wissenschaftlichen Arbeitsweisen. Um mit Felix Salten zu sprechen: "Im Laufe der Jahre hat man diesem ungewöhnlichen und ungewöhnlich fruchtbaren Mann (Léon) sehr viel und sehr oft unrecht getan. Aus Hochmut. Weil er Operetten schreibt. Und aus anderen Gesinnungen. Weil Operetten klotzig Geld einbringen." Victor Léon war zum Zeitpunkt dieser Aussage 70 Jahre alt und dominierte die Wiener Theaterspielpläne. Er hatte das Libretto für Franz Lehárs erfolgreiche Operette "Der Rastelbinder" verfasst, worin er auf höchst unterhaltsame Weise ein treffendes Zeitbild etablierte, und welche auch als beliebtes Militärstück reüssierte -Joseph Roth nimmt in "Radetzkymarsch" Bezug auf die überaus große Beliebtheit der Operette. Franz Lehár notierte damals auf einer Fotografie "Meinem Entdecker" und schenkte die Widmung Victor Léon nach der Uraufführung von "Der Rastelbinder". Denn mit dem 1902 entstandenen Gemeinschaftswerk hatte der prominente Librettist dem damals noch jungen Komponisten Franz Lehár zu einem glänzenden Start ins Operettengenre verholfen. 1905 schufen die beiden -unterstützt von Léons Ko-Autor Leo Stein -mit der "Lustigen Witwe" einen bis dahin nicht dagewesenen Operetten-Welterfolg. Wie bereits erwähnt, trifft das auch für "Das Land des Lächelns" zu (später von Fritz Löhner-Beda und Ludwig Herzer bearbeitet).

"Reflektierte Biographie"

In ihrer Biographie geht Barbara Denscher diesen Erfolgen nach und orientiert sich chronologisch an Léons Werk. Sie beleuchtet Netzwerke, ästhetische Entwicklungen, private Schicksalsschläge und Brüche, ohne reißerisch oder spekulativ zu werden. Die Autorin zeigt ein besonderes Verständnis von Biographieschreibung. Sowohl ihr Buch über Victor Léon als auch ihre bemerkenswerte Fritz Löhner-Beda-Biographie (2003) mit dem Titel "Kein Land des Lächelns" sind sorgfältige Annäherungen, die dem Konzept der "reflektierten Biographie" folgen. Die untersuchte Person wird als einzigartiges Individuum anerkannt und zugleich als Teil historischer Lebenswelten und Sozialgruppen begriffen. Denscher thematisiert damit auch die Problematik der essayistischen Biographik, die um eine möglichst literarische Gestaltung bemüht ist und die vermeintliche Leerstellen gerne mit Erfundenem füllt.

Diese Biographie basiert nicht auf Anekdoten, sondern auf seriösen Grundlagen und einem genauen Blick, der die Zusammenhänge erkennt und benennt. Die Autorin legt aber auch Vorurteile frei und geht dort ins Private, wo es einem realistischen Bild dient. Am Ende ihrer Biographie betont sie die Bedeutung der Freundschaft Léons zu Lehár, der sich - selbst aufgrund seiner jüdischen Ehefrau belastet -erfolgreich für den Schriftsteller und seine Frau einsetzte, als die SS den damals 80-Jährigen aufgefordert hatte, sein Haus zu verlassen. Léon konnte aufgrund von Lehárs Intervention bleiben und starb 1940 an einer Lungenentzündung.

Barbara Denscher hat mit ihrem Buch nicht nur einem außergewöhnlichen Künstler seinen verdienten Platz in der europäischen Kulturgeschichte gegeben, sie legt zugleich eine Biographie vor, die für diesen blühenden Forschungszweig einen neuen Maßstab setzt.

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