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Ein Lesebuch über Steyr, das auch für Nicht-Steyrer lesenswert ist.

Optimistisch ausgedrückt kann keiner österreichischen Stadt, keiner österreichischen Gemeinde, die (kultur)historisch auf sich hält, etwas Besseres passieren, als einen engagierten Kenner und kritischen Lokalpatrioten wie Erich Hackl dafür zu gewinnen, dass er eine regionalspezifische Anthologie zusammenstellt. Pessimistisch ausgedrückt ist zu fürchten, dass viele österreichische Städte und Gemeinden daran ganz und gar nicht interessiert wären. Trotzdem sollte man die von Erich Hackl und Till Mairhofer sorgsam und kundig zusammengetragene Textsammlung zur oberösterreichischen Industriestadt am Zusammenfluss von Enns und Steyr österreichweit allen Gemeinde-und Stadtverantwortlichen als Pflichtlektüre verordnen.

"Wir können das Y im Namen dieser Stadt auch weglassen", heißt es in einer schmalen Prosaskizze der jungen oberösterreichischen Autorin Antonia Rahofer (Jahrgang 1983). Das haben die Herausgeber zum programmatischen Titel gemacht. Das Y steht für all das Widerständige, das Steyr an verstörender Kleinstadtgegenwart und vor allem an historischen Lasten aber auch Potenzialen zu bieten hat, und von diesem widerborstigen Y lassen die Herausgeber absolut nichts weg - auch nicht den linken Querbalken. Es umfasst den Stolz einer aufstrebenden Industriestadt, die sich nach dem Ersten Weltkrieg rechtzeitig von der Rüstungsproduktion ab und - zumindest zwischenzeitlich - der modernen Autoindustrie zuwendet; es umfasst die Kultur der Arbeiterbewegung und das Elend der Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise, das in der Katastrophe der blutig niedergeschlagenen Februar-Kämpfe implodiert, und es umfasst die Zeit der NS-Diktatur, die in den Menschen wie im Stadtbild flächendeckende Zerstörungen zurücklässt, die, wie überall sonst auch, zwar sorgsam renoviert und restauriert wurden, deren (Spät)Folgen in der einen oder anderen Form aber noch in die Erinnerungs-und Erlebnisbilder der jüngsten Autorengeneration hineinreichen. Es ist dieser große Bogen, der aus der Anthologie über eine Stadt ein Lesebuch zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert macht.

Durchkomponiert

Die Texte von rund 50 AutorInnen sind in sechs Abschnitten strategisch und kompositionell so geschickt und mit fester, sicherer Dramaturgie eingepasst, dass beim Lesen der Eindruck entsteht, hier ist nichts dem Zufall überlassen, hier stellt ein dichtes Verweisnetz die Bezüge zwischen den historischen Feldern und Entwicklungslinien wieder her, die die österreichische Nachkriegsgeschichte so nachhaltig zu kappen unternommen hat. "Dankbarkeit und Vorbildwirkung halten keine siebzig Jahre. So erkläre ich mir die rüden Proteste vom Vorjahr, mit denen die Unterbringung von Asylwerbern in der Steyrer Kaserne verhindert wurde." So kommentiert Erich Hackl im Vorwort die Solidaritätsaktionen für das arbeitslose Steyr im Jahr 1933. "Hunger und Industrie" ist dieses Kapitel überschrieben, "Nachprüfen einer Erinnerung" das folgende, das Bürgerkrieg und Faschismus gewidmet ist und vielfältige Spurensicherung betreibt, auch im ganz konkreten Sinn mit der Rekonstruktion von Lebensgeschichten aus dem sozialdemokratischen wie kommunistischen Widerstand. "Verzeihen ist Lüge" und "Off limits" versammeln Kindheitserinnerungen an Krieg, Faschismus und unmittelbare Nachkriegszeit. Viele dieser Texte - insgesamt mehr als die Hälfte des Bandes - sind Originalbeiträge, und auch das ist ein Verdienst des Unternehmens. Die Texte wären ohne Anlassfall vielleicht nicht entstanden. Etwa Evelyn Grills "Kindheitshimmel" oder Britta Steinwendtners "Stelzhamerstraßenland", ein sehr dichter Text, der Topografie und Eigenart einer Stadtlandschaft auch für Nicht-Steyrer "lesbar" macht.

Ehrliches Bild

Erstabdrucke - diesfalls aus dem Nachlass - sind auch jene von Hermann Hakel und Fritz Habeck, die beide ein wenig schmeichelhaftes, aber wohl ehrliches Bild ihrer Verfasser hinterlassen. Mit auffälliger Häufung treten in den geschilderten (Nach)Kriegskindheiten Wahleltern und-mütter auf, die im Leben der Heranwachsenden mit ihrer steten Präsenz und offenen Haltung eine zentrale Rollte spielen, und auffällig häufig werden sie ähnlich beschrieben wie bei Walter Wippersberg: "Sie war eine Sozialdemokratin von der Sorte, die längst ausgestorben ist." Hoffnungsschimmer und Reste gewissermaßen, die sich von der einstigen Solidaritätskultur der Arbeiterbewegung herübergerettet haben. Davon, und auch vom Stolz der Arbeiterkinder, bekam noch die vom Dorf kommende Fahrschülerin Tonja Grüner einen diffusen Eindruck.

"Hilft es zu wissen, dass eine Spur von damals ins Heute führt?" fragt Herbert Pauli in seinem Beitrag über die Niederschlagung des Bauernaufstands. "Das Y im Namen dieser Stadt" gibt eine gültige Antwort auf diese Frage und sie heißt: Ja.

Das Y im Namen dieser Stadt

Ein Steyr Lesebuch

Hg. von Erich Hackl und Till Mairhofer

Verlag Ennsthaler, Steyr 2005

424 Seiten, brosch., e 24,90

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