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Aschermittwoch einer Revolte

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Auch Tage nach dem Wahlsieg de Gaulles ist der französische Buchmarkt mit Berichten, Untersuchungen und Photoalben über die Mairevolution überschwemmt. Kluge Publizisten, beispielsweise Jean Jacques Servan- Schreiber, Herausgeber der bekannten Zeitschrift „Expreß", Soziologen und Philosophen, die Studentenführer oder Politiker, ein Me nd ės France, sie wünschen ihre Meinung abzugeben, versuchen geistige Zusammenhänge zu entdecken und das Phänomen dieser Revolution in der Entwicklung unserer Zivilisation zu deuten. Schließlich rechnet man mit einem guten Geschäft. Jeder Franzose fahndet unermüdlich nach den Ursachen des Ausbruches. Eingeweihte Kreise flüstern, daß Ähnliches im Herbst, und zwar Anfang Oktober zu erwarten sei. Dann allerdings würden die Auseinandersetzungen blutiger und haßerfüllter enden als in den Maitagen.

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Auch Tage nach dem Wahlsieg de Gaulles ist der französische Buchmarkt mit Berichten, Untersuchungen und Photoalben über die Mairevolution überschwemmt. Kluge Publizisten, beispielsweise Jean Jacques Servan- Schreiber, Herausgeber der bekannten Zeitschrift „Expreß", Soziologen und Philosophen, die Studentenführer oder Politiker, ein Me nd ės France, sie wünschen ihre Meinung abzugeben, versuchen geistige Zusammenhänge zu entdecken und das Phänomen dieser Revolution in der Entwicklung unserer Zivilisation zu deuten. Schließlich rechnet man mit einem guten Geschäft. Jeder Franzose fahndet unermüdlich nach den Ursachen des Ausbruches. Eingeweihte Kreise flüstern, daß Ähnliches im Herbst, und zwar Anfang Oktober zu erwarten sei. Dann allerdings würden die Auseinandersetzungen blutiger und haßerfüllter enden als in den Maitagen.

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Denn bei allen Exzessen, die wir in diesen Wochen feststellten, tritt die positive Seite der Revolution, fast ein poetischer Zug, zu Tage. Die ausländischen Journalisten und Beobachter, die Stunde für Stunde, Tag für Tag, Nachrichten sammelten, an unzähligen Plätzen gleichzeitig dieses oder jenes Ereignis verfolgen sollten, ordnen nun ihre Berichte und Artikel, die persönlichen Aufzeichnungen, einige Sätze an den Rand einer Zeitung gekritzelt, um einen besonderen Eindruck lebendig festzuhalten. Später kann jeder von uns behaupteb: Wir waren an-

wesend und fühlten den Atem der Geschichte, erkannten das revolutionäre Paris. Der Sturm auf die Bastille, die Generalstände, die Sitzungen im Jakobinerklub gehören nicht mehr der historischen Forschung allein an, sondern in irgendeiner Form erlebten und erlitten wir neuerlich diese Vorgänge. Andere

Großstädte kennen ihre Studentenunruhen und bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße. Ich glaube jedoch, daß nur in Paris die Geister der großen Männer von 1789 erwachen. Hinter dem Pantheon wachsen, ins Riesengroße gesteigert, die mächtigen Figuren eines Mirabeaus und Dantons. Diese revolutionäre Urkraft, bereit und fähig, eine Gesellschaftsordnung zu vernichten, kann in solch vollendeter Form lediglich in Paris heranreifen.

Es ist ei’ne bleibende und faszinierende Erinnerung, die uns bis ins hohe Alter begleiten wird.

Deswegen sei es gestattet, die politischen und soziologischen Überlegungen beiseite zu schieben, die Philosophie einer Revolution zu vergessen und durch eine persönliche Schilderung den Ereignissen die Leuchtkraft der Farben zu gewähren, um die Atmosphäre einer kollektiven Hysterie einzufangen.

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