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„Selten wie ein Naturwunder“

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Walter Lippmann, einer der bekanntesten politischen Kommentatoren Amerikas, hat nach nahezu einem halben Jahrhundert sorgfältiger Beobachtung das folgende harte Urteil über die gesetzgebenden Volksvertreter in der amerikanischen Demokratie gefällt:

„Voh Ausnahmen, so selten wie Naturwunder, abgesehen, sind erfolgreiche demokratische Politiker zaghafte und eingeschüchterte Menschen. Ihr politischer Aufstieg wird durch Kompromisse, Kuhhandel, Bestechung, Verführung, Schwindelei oder andere Methoden bewirkt, mit denen sie die bedrohlich Fordernden unter ihren Wählern zu be-

handeln verstehen. Entscheidend ist für sie nicht, ob ein Vorschlag richtig, sondern ob er populärer ist; nicht, ob er nützlich sein und sich bewähren wird, sondern ob er das sofortige Wohlgefallen des beredteren Teils der Wählerschaft zu finden verspricht.“ Übertragen auf die politischen Zustände in manchem anderen Land mag Lippmanns strenges Verdikt vielleicht unanfechtbar sein: für die Vereinigten Staaten jedenfalls wird es in John F. Kennedys Buch „Profiles of Courage“ — der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel „Zivilcourage“ bringt de Inhalt weniger prägnant zum Ausdruck — entschieden abgelehnt. Der seit langen Jahren mitten im politischen Leben stehende Autor zeigt an Hand einer Reihe von historischen Beispielet;, von John Quincy Adams bis herauf zu Robert Taft, der durch seine Stellungnahme zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen berühmt oder, wenn man will, berüchtigt geworden ist, daß es in der amerikanischen Geschichte immer wieder, und nicht nur „so selten wie Naturwunder“, Politiker gegeben hat, die in der kritischen Stunde den Mut aufgebracht haben, sich in bewußtem Gegensatz zum Willen und den Erwartungen der Wählerschaft, und als dessen Folge den eigenen politischen und vielleicht auch wirtschaftlichen Ruin vor Augen, einzig und allein von ihrem Gewissen leiten'zu lassen und den Weg zu beschreiten, der ihnen mit Rücksicht auf die Ehre und die wahren Interessen der Nation geboten schien. Wenn Kennedy in seinem ungemein lebendig geschriebenen und aufschlußreichen Buch, dessen Orginalausgabe übrigens schon vor fünf Jahren erschienen ist, die Meinung vertritt, daß es auch im heutigen amerikanischen Kongreß, und namentlich im Senat, nicht an Männern fehlt, die durch Überzeugungstreue und nicht durch' Popu-laritätshascherei charakterisiert sind, so wird man dem um so weniger widersprechen können, als der gegenwärtige Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei zweifellos zu den Mutigen gehört. Das beweist vielleicht am eindrucksvollsten eine unter dem Titel „The Strategy of Peace“ unlängst erschienene Sammlung der Reden, die er im Lauf der letzten Jahre an verschiedenen Orten und im Rahmen verschiedenartigster Veranstaltungen gehalten hat und die an schonungsloser Offenheit in der Darlegung höchst unpopulärer Wahrheiten, besonders über die Haltung Amerikas im Weltkonflikt, nichts zu wünschen übrig läßt. Falls der nächste Präsident, der in das Weiße Haus einzieht, John F. Kennedy heißt, kann es wohl sein, daß Chester Bowles, einer seiner engsten Mitarbeiter, mit der Meinung recht behält, daß den Vereinigten Staaten „eine neue, brillante Periode politischer Schöpfungskraft“ bevorsteht. Allerdings, ob und wie sich diese Voraussage erfüllen wird, kann erst die Zukunft lehren.

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