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Pierre Vidal-Naquet erinnert an die fantastischen Geschichten um Atlantis.

Amerika steht am Beginn aller Zivilisation und von dort aus verbreitete sich diese in spezieller Beziehung zwischen Amerika und Italien in den Mittelmeerraum und über die ganze Welt! Nein, berichtet wird hier nicht von Träumen der gegenwärtigen US-Administration. Der Erfinder solchen Delirierens ist der italienische Graf Gian Rinaldo Carli (1720-1795), der einen von vielen skurrilen Versuchen unternahm, den Anfang der Zivilisation zu erklären. Dazu diente seit Jahrhunderten der alte Mythos von Atlantis.

In ihm bündelt sich dieses ebenso seltsame wie alte Begehren des Menschen, seine unerfüllten Wünsche und Hoffnungen auf einen Ort zu projizieren. Pierre Vidal-Naquet treibt diese Frage auch um. Er ist jedoch kein Psychologe, sondern Historiker, der sich Zeit seines Lebens mit dem Werk Platons befasst hat. Am Beginn des "Timaios" berichtet ein gewisser Kritias von einer alten Überlieferung aus dem von Platon hochverehrten Ägypten. Demnach hätte es ein Ur-Athen gegeben, das Platons Staatsutopie außerordentlich ähnlich war. Dieses stand einem großen Inselstaat, Atlantis, gegenüber. Eine Flutkatastrophe verschlang sowohl Atlantis als auch die Streitmacht Athens geradewegs als sie im Begriffe war, die Atlanter zu unterwerfen.

Ein versunkener Ort gebündelten Ideals - das konnte nur ein realer Ort sein. Von Kreta über Troja, Sardinien, Malta, Madeira, die Antarktis, Bolivien, die kanarischen Inseln, Amerika, Indien, allerlei vermeintlich versunkene Eilande im Atlantik oder Mittelmeer, bis hin zu Schweden und Irland gibt es kaum einen Flecken auf dieser Welt, der nicht mit Atlantis in Verbindung gebracht worden wäre. Da die Atlanter auch die Urträger der Zivilisation waren, überlagern sich die Geschichten in mehrfacher Weise. Vidal-Naquet zeichnet diese Phantasien in groben Strichen und nicht unbedingt mit literarischer Eleganz nach, beginnend mit der heidnischen und christlichen Antike, die sich im wesentlichen mit Rezeptionsfragen begnügte. Ab dem späteren Mittelalter, vor allem jedoch ab der Entdeckung Amerikas, das "atlantisch bewältigt werden mußte", kann er zumindest einige Motive für das eingangs erwähnte Begehren festmachen. Da ist der Nationalismus, der schon für Platon ausschlaggebend gewesen sein dürfte. Dass Graf Carli den Amerikanern den Vortritt lässt, weil "wir in Italien alles fremden Völkern, vor allem Barbaren verdanken wollen", ist dabei eher die Ausnahme als die Regel. Aus anderem Holz sind da schon die nationalsozialistischen Historiker und Politiker geschnitzt, die in den Atlantern Urgermanen sahen, die sich sogar bis Galiläa ausbreiteten, weshalb Jesus von Nazareth auch kein Jude, sondern ein Atlanter, also ein Germane gewesen sei. Die Religion ist die nächste Triebkraft. Die Atlanter in Amerika seien mit Berufung auf apokryphe Bibeltexte die zehn versprengten Stämme Israels gewesen. Von dort ist der Weg nicht weit, die heidnischen Götter als deformierte Abkömmlinge der christlichen Offenbarung anzusehen. Noch schwieriger freilich ist es, dem irischen Autor Henry O'Brien zu folgen: die ersten Menschen, damit auch Eva, seien Buddhisten gewesen und Irland eine Kolonie Irans.

Was will Vidal-Naquet mit dieser Aneinanderreihung fantastischer Geschichten? Ohne viel philologische Evidenz will er jene Meinung unterstreichen, die schon von Autoren wie dem Platoniker und Humanisten Marsilio Ficino (1433 -1499) oder dem Freidenker Nicolas Fréret (1688-1749) vertreten worden ist. Atlantis sei eine erfundene Erzählung Platons zur Legitimation der Vorherrschaft Athens. Diese glaubwürdigste aller Geschichten wird freilich auch weiterhin Menschen nicht davon abhalten, sich Taucherflossen und Brille umzuschnallen, und mitten im Atlantik nach dem versunkenen Idealstaat zu suchen - und sie werden mit Sicherheit dabei auch fündig werden.

Atlantis

Geschichte eines Traums

Von Pierre Vidal-Naquet

C.H.Beck Verlag, München 2006

188 Seiten, geb., E 20,50

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