Zöglings Erinnerungen

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Engelbert Obernosterers Blick zurück.

Wer sich dem imposanten Gebäudekomplex des Marianums Tanzenberg einmal, vom Talboden des Zollfelds aufsteigend, genähert hat, kann erahnen, wie sich diese "Burg der göttlichen Gewissheiten" auf die Psyche der Zöglinge auswirken muss. Verstärkt gilt das natürlich für jene, die in den Nachkriegsjahren aus ärmlichen Verhältnissen und abgelegenen Tälern via Tanzenberg die Welt des Wissens betraten.

Das trifft auf Peter Handke ebenso zu wie auf Engelbert Obernosterer, der drei Jahre früher, vom Pfarrer in St. Lorenzen im Lesachtal begleitet, seinen siebenjährigen Aufenthalt im bischöflichen Knabenseminar antrat. Natürlich ging es den Landpfarrern, die - ausschließlich männlichen - Kindern aus armen Verhältnissen den Weg ins Gymnasium ebneten, primär um den Priesternachwuchs, aber ebenso natürlich traf pro Jahrgang nur eine kleine Zahl dann tatsächlich diese Entscheidung.

Für den Rest der Jugendlichen bedeutete die kirchliche Rekrutierung die einzige Möglichkeit, zu Bildung zu kommen und zu Perspektiven jenseits der alles bestimmenden Heufrage im elterlichen Bergbauernhof. Diese Rolle als Ausgleichsinstrument ungleicher Bildungschancen vor allem im ländlichen Raum hat die Kirche seit langem verloren und ist darin von keiner ähnlich flächendeckend organisierten Instanz abgelöst worden.

Im Unterschied zu seinem Mitschüler Florjan Lipus, der seinen Roman "Zögling Tjaz" bereits vor einem viertel Jahrhundert vorlegte, hat sich Engelbert Obernosterer lange Zeit gelassen, die Geschichte seiner Kindheit und Jugend niederzuschreiben. Wohl auch deshalb ist ein ungewöhnlich ruhiges Buch entstanden, das auf moralische Wertung verzichtet und gerade daraus seine Dichte und Überzeugungskraft bezieht. Das beginnt bei der Kindheit im Bergbauernhof. Es sind harte Verhältnisse, harte Menschen und ein hartes Leben, aber Obernosterer geht es nicht um Klage oder gar Anklage. Er beschreibt mit großer Bildkraft das Leben der "Bergler", deren Häuser "Schutzschilde" darstellen, "die sie dem Zugriff der chtonischen Mächte entziehen sollen", und vermag aus einer zusammengeleimten Tischplatte "holzgewordene Berichte" herauszulesen über die Mühsal des Alltags, die das Leben und den Charakter der Menschen ins Harte und Wortlose prägt und für Heranwachsende kaum Raum und Zeit für Kindheit lässt.

Auch die Internatserinnerungen zeigen das Leiden des Kindes von einst, ohne Anklage zu erheben. Angst, Kälte, kleine Sadismen, unerfüllbare Sehnsüchte - und sei es nur, an heißen Tagen mit nacktem Oberkörper Fußball zu spielen - sind Teil des Systems Priesterseminar, das für Kinder aus ärmlichen Verhältnissen Chance wie Last bedeutet.

Mühsam ist der Weg zu einer autonomen Weltsicht, und noch viel komplexer die schwierige Abnabelung von den Herkunftszwängen. Das ganze Dorf ist - auch mit Geldgaben - beteiligt an der elterlichen Entscheidung, mit Entbehrung und unter Verzicht auf eine wichtige Arbeitskraft einen Priester ausbilden zu lassen. Solch geballte dörfliche Anteilnahme will einmal enttäuscht sein. Obernosterer thematisiert diesen Zwiespalt, der einen Heranwachsenden aussichtslos überfordern muss, und auch die prinzipiell problematischen Wege der Erinnerung. "Aus der Zöglingszeit am besten im Gedächtnis geblieben sind mir die kleinen und größeren Ordnungsverstöße … Sie sehe ich nach wie vor als zu mir gehörig an, indes der größere Rest dieser Zeit von einer mir wesenfremden Ordnung aufgesaugt worden ist".

Obernosterer richtet den kritischen Blick nicht nur auf das System, die Lehrer und die Mitschüler, sondern in gleicher Weise auf das Ich, das er damals war. "Schweigen und buckeln müssen ja auch die außerhalb der Internatsmauern", heißt es gegen Ende des Erinnerungsbuches. Trotzdem, so Obernosterer, wenn manche Tanzenberg-Zöglinge im Rückblick nicht müde werden, die damalige Schule und Erziehung zu loben, dann sei das mehr eine "vorwiegend gesundheitsfördernde Vergangenheitsbewältigung", die alle nicht bekömmlichen Inhalte ausblendet.

Tanzenberg, das "mehr Komplex ist als Gebäude", starrt mit der "strengen Gleichförmigkeit der Fensterreihen" noch auf den abtrünnigen Ex-Zögling strafend herab, der vor der Matura in ein öffentliches Gymnasium flieht, und übt seine Prägung auch späterhin aus. Allerdings, und das ist gewissermaßen das erkenntnisleitende Interesse dieses Erinnerungsbuches, hängen Wahrnehmung und Erfahrung der Internatsjahre ganz wesentlich vom sozialen Ausgangspunkt der Zöglinge ab. Und der war für einen kleinen Berglersohn zweifellos ein radikal anderer als für Kinder aus gutbürgerlichem Milieu. In diesem Punkt unterscheidet sich Tanzenberg nicht prinzipiell von anderen Mittelschulen.

Nach Tanzenberg

Eine Lossprechung. Von Engelbert Obernosterer. Kitab-Verlag, Klagenfurt 2007. 238 Seiten, kart. € 18,-

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