Mit der Angst im Gepäck

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In Michael Winterbottoms "In this World" verschwimmen Fiktion und Wirklichkeit: Hautnah begleitet die Handkamera zwei Flüchtlinge auf ihrer beklemmenden Reise in eine bessere Zukunft.

Karge Berge, kleine, überbelegte Lehmhäuser, primitivste Wasserversorgung: 53.000 Flüchtlinge leben im Lager Shamshatoo der pakistanischen Grenzstadt Peshawar. Ihre Tagesration besteht aus 480 Gramm Weizen, Öl und Hülsenfrüchten, informiert eine Stimme aus dem Off. Der halbwüchsige Waise Jamal, ein Afghane, lebt hier in einer Großfamilie, arbeitet im Steinbruch für weniger als einen Dollar pro Tag.

Mitten in diesem Flüchtlingsgewimmel beginnt Michael Winterbottoms "In this World", der mit dem "Goldenen Bären" der Berlinale 2003 ausgezeichnet wurde. Er zeigt beklemmend realistisch die Lebenswirklichkeit von Migranten. Es ist eine Weltreise aus Flüchtlingsperspektive, ein lebensgefährliches Roadmovie auf Lastwagenladeflächen, geprägt von Angst und dem Zwang, die eigene Identität zu verleugnen. Parallelrouten des Menschentransports offenbaren sich da: versteckt in Orangenkisten, tagelang eingeschlossen, ausgeliefert und ausgebeutet von dubiosen Schleppern. Jede Kontrolle, Landesgrenze oder neue Teilstrecke ist russisches Roulette. Weltweit 14,5 Millionen Flüchtlinge haben das erlebt.

Mit Laien und digitaler Videokamera ohne Licht gedreht, durchwoben von Dokumentarfilmelementen wie Kommentaren, Landkarten, grafisch gestylten Orts- und Zeitangaben verschwimmen in diesem Film Fiktion und Wirklichkeit. Das Drehbuch war grob, die Schauspieler (Jamal Udin Torabi, Enayatullah) hatten Pakistan noch nie verlassen und erlebten die Reise tatsächlich zum ersten Mal.

Jamals Cousin Enayatullah lebt in Peshawar. Sein Vater ist Händler, doch er soll es einmal besser haben. Die Familie finanziert ihm die Flucht nach London, ein Schlepper findet sich rasch. Der kleine Jamal spricht ein paar Brocken Englisch, also darf er mit. Abenteuerlich gelangen die zwei über Quatta nach Teheran, zu Fuß durchs tief verschneite kurdische Gebirge in die Türkei, von Istanbul an Bord eines Schiffes im versiegelten Lastwagen nach Turin. Eine Teilstrecke, die Todesopfer fordert: Nur Jamal schlägt sich zum französischen Lager Sangatte durch, von dort geht es schließlich bis nach London. Wie vereinbart, ruft er daheim an: Das Gesicht von Enayatullahs Vater am Hörer ist in nur eines von vielen einschneidenden Bildern und Momenten dieses Films.

Doch das real-fiktive Flüchtlingsschicksal des jungen Afghanen ist damit noch lange nicht zu Ende: Noch vor seinem 18. Lebensjahr muss er wieder ausreisen. Die nächste Flucht beginnt...

In This World

GB 2002. Regie: Michael Winterbottom. Mit Jamal Udin Torabi, Enayatullah,

Imran Paracha, Hiddayatullah, Hossain Baghaeian. Verleih: Filmladen. 89 Min.

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