"Kind als Kapitalanlage"

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Zwei unterschiedlichere Herangehensweisen hätte man sich kaum vorstellen können: Andrea Breth, die langjährige Hausregisseurin an der Burg, zelebriert Hauptmanns Vorkriegsstück über die morschen Verhältnisse im wilhelminischen Deutschland mit einem exquisiten Ensemble, während Bernd Liepold-Mosser im Theater an der Gumpendorferstraße (TAG) eine radikale Überschreibung zeigt, die auf die prekären Verhältnisse unserer Gegenwart fokussiert. Mit kritischem Blick auf die Diskrepanz zwischen beschönigender Sprache und grausamer Wirklichkeit gelingt Liepold-Mosser eine hervorragende Groteske.

Der Mensch als "Sollbruchstelle"

Pointiert gibt Michaela Kaspar die Protagonistin Jette John, im TAG eine solide, adrette Bürgerin von heute. Stets gut frisiert -darauf legt ihr Mann Wert - und proper hergerichtet, ist sie die perfekte Konformistin. Nur ein Kind fehlt in dieser Lebenskonstruktion, bestimmt von sozialem Mitmachdruck. Ihr erstes Kind starb bald nach der Geburt, und trotz Hormontherapien wird Jette John nicht schwanger. Der Körper "funktioniert" nicht, der Mensch zeigt sich als "Sollbruchstelle". Da taucht plötzlich die schwangere Pauline auf (bei Hauptmann ist sie ein polnisches Dienstmädchen), die keinen Vater zum Kind hat und sich deshalb umbringen möchte. Jette John sieht ihren Moment gekommen und folgt einer wirtschaftlichen Logik, die in Menschen "Human Resources" sieht: Die eine kriegt ein Kind und verfügt über keinen Mann, die andere hat einen Mann und wünscht sich ein Kind. Also überredet Frau John Pauline, das Kind am "ausbaufähigen Dachboden" zu gebären und es ihr dann zu überlassen. Als Bonus steckt sie ihr reichlich Schweigegeld zu.

Vorerst scheint alles geregelt, doch die Wände haben Ohren, oder im TAG vielmehr Löcher, die soziale Kontrolle ermöglichen. Als der erfolgreiche "in der Arbeitswelt fix verankerte" Ehemann nach Hause kommt, findet er seine Frau und das heißersehnte "Kind als Kapitalanlage" vor. Doch die Nachbarn schlafen nicht, und Georg Schubert gibt einen solchen als vermeintlich wohlmeinenden Freund der Familie. Er ist eine richtige "Bassena-Tratschen", versteckt im chicen Anzug und aalglatt in den Umgangsformen. Jette John verstrickt sich immer mehr in ihr Lügengeflecht, denn der Mensch funktioniert eben nicht nach ökonomischen Maßstäben oder "Algorithmen", wie es bei Liepold-Mosser heißt. So stürzen nicht steuerbare Gefühle und nicht zertifizierbares Gewissen Jette John und ihre Familie ins Unglück. Liepold-Mosser ist im TAG eine rasante Groteske gelungen, die das Verständnis von Menschen als Material als spätkapitalistischen Zynismus entlarvt.

Auch im Burgtheater haben die Wände Augen und Ohren. Am Dachboden sitzen überdimensionale Ratten zwischen transparenten Stellwänden (Bühne: Martin Zehetgruber), die Substanz des Gebäudes scheint von Grund auf zerfressen.

Neben dem Haupthandlungsstrang, der Tragödie um Frau John, baut Breth den komischen Teil des Dramas aus: Am Dachboden wird nicht nur das Kind geboren, hier lagert auch der Kostümfundus des ehemaligen Theaterdirektors Hassenreuter. Und hier trifft er sich heimlich mit Alice, seiner Geliebten. Sven-Eric Bechtold ist ideal als Theaterdirektor besetzt, er kehrt die Selbstgefälligkeit und Leidenschaft dieser zwielichtigen Figur heraus. In Breths "Die Ratten" sind vor allem die szenischen Miniaturen interessant, etwa wenn Roland Koch als biederer Provinz-Pastor dem sich großstädtisch gebenden Hassenreuter begegnet. In der Anonymität der Großstadt muss der Mensch verderben, so die These des Theologen. Die Morphinistin und Prostituierte Sidonie Knobbe (Andrea Eckert) bestätigt seine Annahme. Sie hat zwei völlig verwahrloste Kinder, von denen eines am Ende verhungern wird.

Ringen um ein glückliches Leben

Für diese Gesellschaft kann es keine Zukunft geben, am anschaulichsten zeigt es sich am Schicksal von Frau John: Johanna Wokalek macht deutlich, was aus dieser Frau wird, die um ein glückliches Leben ringt und dabei anständig bleiben möchte. Ihr gelingt eine vielschichtige Figur, die an den Erwartungshaltungen ihrer Umgebung zerbricht. In einer Gesellschaft zwischen Prekarisierung und Selbstoptimierung, von der Politik mit schönen Worten weichgespült, sind Hauptmanns "Die Ratten" aktueller denn je.

Die Ratten Burgtheater Wien, 13.4., 12.5., 13.5., 2.6.

die ratten Theater an der Gumpendorferstraße (TAG) 11.4./12.4., 25.-27.4., 7.5./8.5., 10.5./11.5.

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