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Aus der Not die Tugend

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Die Lage in Polen gebietet jedenfalls den Schein — oder in mancher Hinsicht die Tatsache — einer elastischen Duldsamkeit aufrechtzuerhalten. Denn es lasten drückend auf allen nicht nur die unmittelbare Furcht vor einem kriegerischen Zusammenstoß zwischen West und Ost, sondern auch ein, ungeachtet der stolz gemeldeten Übererfüllung des Produktionsplans, betrüblicher Lebensstandard. Die unwahrscheinlich niedrigen Gehälter und Löhne — 1700 Zloty, theoretisch etwa genau so viel Schilling —, die häufigen Engpässe auf dem Warenmarkt, das Herabdrücken der Intelligenz auf das klägliche Daseinsniveau der Arbeiter und vielleicht vor allem die allen großen Worten zum Trotz ständig sich steigernde Wohnungsnot würden jedes westliche Volk zur Verzweiflung bringen.

Dazu einige Beispiele. Eine Zuckerfabrik sucht durch Annonce „geistige Arbeiter, die bei der Zuckerrübenernte mithelfen: Monatsbezüge 1500 bis 2700 Zloty“. Die Neuregelung der Wohnungsbewirtschaftung in Warschau gewährt pro Kopf fünf Quadratmeter Minimum, sieben Maximum. Vorsorglich sind „sozial wertvolle" Personen von dieser allgemeinen Norm ausgenommen. Neue Häuser sind den wirtschaftlich verwendbarsten Elementen Vorbehalten. Nichtarbeitsfähigen und vor allem Leuten der „Privatinitiative“

oder sonstigen dunklen Existenzen (früheren Gutsbesitzern, politisch Verdächtigen usw.) wird eine Bleibe nur in alten Häusern, das heißt in verfallenen Halbruinen, zugebilligt. Wohl wurde das Mindesteinkommen der Werktätigen mit 700 Zloty monatlich bestimmt. Doch da man, um ein für Polen als ausreichend anzu- sehencUsi Einkommen zu besitzen, 10.000/ Zloty für ein Ehepaar und mindestens 2000 Zloty für jedes Kind, 3000 für jeden erwachsenen Mitbewohner rechnen muß, gelangt nur ein sehr kleiner Bruchteil der Bevölkerung über die untere Grenze eines für westliche Begriffe erträglichen Standings hinaus. Deshalb darf es nicht verwundern, daß Korruption, Schleichhandel, Unterschlagungen blühen und daß sie durch keine drakonischen Strafen auszurotten sind.

Erstaunlich dünkt uns nur, mit wieviel Gleichmut und guter Laune die Menschen in Polen ihr hartes Schicksal erdulden; wie große Anteilnahme sie der Literatur, der Kunst, den Wissenschaften und den heimischen wie den internationalen Ereignissen schenken; vor allem aber, mit welchem Wirklichkeitssinn sie aus der Not eine Tugend machen, sich den Verhältnissen fügen und es verstehen, unter einem ihnen fremden, aufge- zwungenen Firnis dennoch sie selbst zu bleiben.

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