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Bilanz um Polen

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Vor dem Kriege war Polen eines der Ver-pflegsmagazine Europas. Man weiß, wie schwer das Land gelitten hat und welche großen Opfer die Kämpfe und die Unmenschlichkeit der Besetzung gefordert haben. Aber zu den schweren Schäden des Krieges fügen sich neue, die im Frieden unverständiger Doktrinarismus hervorrufe In der englischen Wochenschrift „Spectator“ (Nr. 6128) veröffentlicht H. D. Walston auf Grund einer Bereisung des Landes genaueres Zahlenmaterial über die landwirs schaftlichen Verhältnisse in Polen. Man findet hier das gleiche Bild, wie überall auf dem Kontinent, vielleicht noch ein bißchen krasser und akzentuierter. Kein nennenswerter Viehbestand, kein Futter für das noch vorhandene Vieh, keine Düngemittel, schwerste Verluste an Maschinen und mechanischen Verkehrsmitteln, das ist die Bilanz der letzten sechs Jahre. Große Gebiet — berichtet Walston, vor allem jene westlich der Weichsel bis an die Oderlinie herann — sind fast vollkommen entvölkert und man trifft auf einer Reise durch diese Landstriche nur selten ein Lebewesen an. Dieses (man muß fast sagen: kriegsbedingte) Unheil wird — wie auch dies linksgerichtete englische Wochenschrift zugibt — durch das gelenkte Unglück einer Hals über Kopf durchgeführten sogenannten „Bodenrefor m“ noch vertieft. Walston sagt: „daß die Aufteilung des Großgrundbesitzes, wie wertvoll sie auch von Sozialeo und politischen Gesichtspunkten aus erscheinen mag, in landwirtschaftlicher Beziehung eine Katastrophe ist.“ Der offenkundige Widerspruch dieses Urteils verschleiert höflich den schweren Tadel: Denn es können Maßnahmen nicht sozial und politisch wertvoll sein, di für die Landwirtschaft, also die Ernährungsbasis des Landes, eine „Katastrophe“ sind. Wi Walston feststellt, hat zum Beispiel di Bodenreform im Kreise L u b 1 i n folgend Zahlen ergeben: Von 310.000 Besitzen sind 66 Prozent unter 12 Morgen (1 Morgen =a 2500 Quadratmeter) und nur 1 Prozent über 37Y Morgen; die Folge davon \%\ daß in der Gesamtproduktion von Roggen, Weizen, Gerste, Hafer und Kartoffeln d i c Anbaufläche um ungefähr 15 bi 30 Prozent und das Erträgnis um 30 Prozent gesunken ist. Dazn kommt noch die furchtbare Lage des Viehbestandes. An Rindvieh betragen die Ver* luste 50 Prozent, an Pferden und Schweinen 75 Prozent und an Schafen sogar 90 Prozent. Auch da spielt die Zersplitterung des Grund und Bodens eine unglückliche Rolle, da der Kleinbauer ja nie dieselbe Viehverwertungsmöglichkeit hat wie der landwirtschaftliche Großbetrieb. Die Bauern erkennen das selbst und versuchen durch Zusammenschluß einzelner Anwesen, durch staatliche Leitung größerer Gebiete, 'ja sogar durch Interessengemeinschaften unter Leitung des früheren Großgrundbesitzers dieser Verzettelung zu begegnen. Die Regierung gestattet auch, daß bereits parzelliertes Grundeigentum wieder verkauft oder gekauft wird, doch dürfen in einer Hand nicht mehr als 125 Morgen vereinigt werden.

Da die Regierung einen teilweisen freien Markt gestattet, fällt zwar der Schwarzhandel weg, die Unterschiede zwischen den Preisen im freien Verkauf und den staatlich festgesetzten Preisen stehen jedoch im gleichen krassen Mißverhältnis wie die Schwarzhandelpreise im übrigen Europa. Alle jene Personen, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, und alle jene, die nicht als Arbeiter tätig sind oder die als freie Arbeiter Beschäftigung gefunden haben, müssen sich und ihre Familien ohne Karten verpflegen. Karten bekommen nur Ärzte, Lehrer, Studenten, Arbeiter in Staats- und Großbetrieben und Staatsbeamte. Wenn man bedenkt, daß ein Taglöhner am freien Markt 8000 bis 10.000 Zloty im Monat verdient, während ein staatlich bezahlter Straßenbahnschaffner nur 1800 Zloty bekommt, wird es klar, daß der freie Markt nur einer gewissen sehr begrenzten Bevölkerungsschichte zur Verpflegung zur Verfügung steht. Der vorgeschriebene Preis für Weizen zum Beispiel ist 3 Zloty pro Zentner, steigt aber im freien Handel bis auf 2 0 0 0 Z 1 o t y, bei Milch ist das Verhältnis pro Liter 1 Zloty zu 15 Zloty, bei Fleisch 1 Zloty zu 200 Zloty pro Kilogramm. Etwa 25 Prozent muß der Bauer von der Gesamtproduktion für die staatlich gelenkte Verpflegung abliefern, den Rest kann er entweder behalten oder frei verkaufen. Nur für Invalide, alte Leute, Waisen, die weder Karten zugewiesen bekommen noch die Mittel haben, sich im freien Handel zu verpflegen, errichtet das Ministerium für soziale Fürsorge Verpflegungsstellen in verschiedenen Städten. Walston schildert den durch solche Verhältnisse, durch Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, das furchtbare Erbe der Besetzung und des Krieges, geschaffenen Gesundheitszustand als sehr ernst. Die polnische Regierung stehe vor der sehr dringlichen Aufgabe, jenen circulus vituosus zu beseitigen, der von der Landwirtschaft über die Transportfrage zur Volksgesundheit führt.

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