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Lehrstunden der Marktwirtschaft

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Wenn man wüßte, daß man et­was davon hätte!" Die Be­merkung des Portiers des Schlosses in Lublin, einer 350.000 Einwohner zählenden Universitätsstadt 170 Ki­lometer südöstlich von Warschau, ist typisch für die momentane Ein­stellung vieler Polen. In Aussicht gestellte Devisen öffneten schließ­lich den österreichischen Besuchern der Festung das Herz des Wächters und das Tor zur bereits abgeschlos­senen Burgkapelle mit wunderschö­nen Fresken, die derzeit restauriert werden. Bei einem durchschnittli­chen Monatseinkommen von um­gerechnet 30 bis 35 Dollar war der Lubliner Beamte von dem Schilling-, DM- und Dollar-Trinkgeld offenbar so begeistert, daß der sich anfänglich so Zierende die auslän­dische Besuchergruppe sogar in die Krypta führte, in der einst Wladys-law, der erste Polenkönig aus der Dynastie der Jagiellonen, bestattet gewesen sein soll.

Man fühlt sich im Reform-Polen in die unmittelbare Nachkriegszeit Österreichs versetzt. Jeder versucht sein Schäfchen ins Trockene zu bringen und alles, was einigerma­ßen verkaufbar erscheint, in Devi­sen umzusetzen. Der Privathandel ist das erste, was in der Gegend um den Warschauer Zentralbahnhof beim riesigen Kulturpalast (bauli­ches Erbe aus der Stalin-Ära) ins Auge springt. Privat produzierte Schuhe werden genauso feilgebo­ten wie kopierte Kassetten, die auf billigen West-Recordern mit voller Lautstärke abgespielt werden. Schweine- und Rindfleisch wird von den Bauern, die Zwischenhändler umgehen wollen, direkt aus dem Kofferraum des Autos angeboten, magere Hühner liegen zu Hunder­ten auf Pappendeckeln ausgebrei­tet zum Kauf herum. Man kann heute vieles haben in Polen, es kommt aufs gute Rechnen an. Für den Besucher aus dem Westen ist eine Knackwurst um umgerechnet etwa drei Schilling, ein Baguette um eineinhalb Schilling, eine Oran­geade um etwa denselben Preis fast kein Geld. Für den Polen sind 2.0 00, 1.300 und nochmals 1.300 Zloty -wenn er sich oder einem Familien­mitglied den genannten „Luxus" leisten möchte - unendlich viel Geld: denn 300.000 beziehungsweise 350.000 Zloty pro Monat engen den Kalkulationsrahmen bei Preisstei­gerungen von 7 5 Prozent und Lohn­erhöhungen von etwa 1,5 Prozent im Jänner - dem Monat des Beginns des monetär ausgerichteten Inflationsbekämpfungsprogramms von Finanzminister Balcerowicz -enorm ein.

Die Polen müssen den Gürtel enger schnallen. Das Problem be­steht darin, wie lange sie dieses Sparprogramm einsehen und durchhalten. Denn - so die landläu­fige Meinung - wenn sich politisch etwas rasch ändern kann, dann müßte doch auch wirtschaftlich bald eine Besserung zu erwarten sein. i1 « 8 « «

Das Balcerowicz-Programm sieht einen Inflationsstop, „mittels einer Hyperinflation", wie ein Kritiker zur FURCHE bemerkte, vor. Gleichzeitig sinkt aber die Produk­tivität. Die wirtschaftliche Rezes­sion betrug im Jänner 25 Prozent. Landwirtschaftsgeräte wurden mittlerweile zweimal um 100 Pro­zent teurer. Trotzdem ist Polen gezwungen, das mit dem Interna­tionalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank ausgehandelte Spar­programm durchzuführen. „Bei einem Scheitern werden alle zuge­sagten Kredite zurückgezogen, und deswegen müssen die Polen die Zähne zusammenbeißen und da hindurch", konstatieren politische Beobachter, die gleichzeitig hinzu­fügen, daß die wirtschaftliche Si­tuation auch eine innenpolitische Komponente besitzt: Die Polen wissen, daß Premier Tadeusz Ma-zowiecki, der gemeinsam mit Bal­cerowicz internationales Vertrau­en genießt, kreditwürdig ist. „Nur diese Tatsache", so ein polnischer Publizist, „hat bis jetzt verhindert, daß die Linken in der Solidarnpsc-Plattform an der Macht sitzen." Wenn die polnische Gesellschaft das Sparprogramm aushält, dann hat auch die Regierung Mazowiecki eine weitere Chance. Allerdings kann alles rasch umkippen. In Warschau kursierten dieser Tage Flugzettel mit dem Aufruf zu einem Gene­ralstreik - das letzte, was Polen in der jetzigen Lage brauchen kann.

Was von Ökonomen bedauert wird, ist die Tatsache, daß sich am Zustand des staatlichen Eigentums in Polen bis dato noch nichts geän­dert hat. Die große Eigentums­reform läßt auf sich warten. Des­wegen glaubt mancher, daß nicht die Inflationsbekämpfung das wichtigste sei, sondern die Schaf­fung neuer Eigentumsformen und Beteiligungsmöglichkeiten. Aber dafür kämpft momentan keine po­litische Partei in Polen, alles starrt gebannt auf die Konsequenzen des Regierungsprogramms.

Dieses Regierungsprogramm aber ist nur mit dem guten Willen der Polen zu verwirklichen. Und da haperts, weil viele noch in den alten Kategorien denken und sich zu passiv-abwartend verhalten. Mit dem privaten Lebensmittelverkauf auf den Straßen in Polen absolviert das Land sozusagen die ersten Lehr­stunden des freien Marktes. Es gibt frische Ware, oft besser als in den Geschäften, diese sind herausge­fordert, noch bessere Qualität an­zubieten. Das wird vor allem dann nötig sein, wenn's wärmer wird, denn noch schützt die natür­liche Kälte Fleischwaren.

Kleine Anzeichen, daß es in Po­len besser wird, gibt es also schon. Auch die Inflation ist niedriger als im Dezember 1989. Erhofft wird für den März eine Inflationsrate von vier bis fünf Prozent. Dann wäre im April ein echter Besse­rungsschub zu erwarten. Die polni­schen Medien spielen hier mit und reagieren nicht überkritisch auf das Regierungsprogramm. Bloß die ehe­malige Parteipresse verhielt sich zu­nächst' reserviert, wobei auch hier klar war, daß die Balcerowicz-Maßnahmen grundsätzlich unter­stützt, aber flankierende Maßnah­men verlangt wurden.

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