6927626-1982_17_06.jpg
Digital In Arbeit

Polen: Die Mühsal des Alltags

Werbung
Werbung
Werbung

Der wirtschaftliche Niedergang und die Versorgungsmisere - für beides macht die Propaganda des polnischen Militärregimes die Gewerkschaft „Solidarität" verantwortlich - ist offenbar auch durch Uniformträger nicht zu stoppen. Das tägliche Leben ist für die Polen nach wie vor eine unsägliche Mühsal.

Die Schlangen vor den Geschäften in Warschau sind tatsächlich kürzer geworden, das Angebot — wiewohl noch immer dürftig genug, selbst für Ostblockverhältnisse — scheint geringfügig reichhaltiger zu sein. Diesen oberflächlichen Eindruck vermittelt ein Lokal-Augenschein in der polnischen Hauptstadt.

Stimmt es also, was das Parteiorgan „Trybuna ludu" Anfang März geschrieben hat?

„Das Allerschlimmste haben wir wohl schon hinter uns. Der Winter, den so viele als eine Zeit des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit fürchteten und auf den sich ein langer, gefährlicher Gespensterschatten einer nationalen Katastrophe legte, ging vorüber. Mit dem Frühling kommen neue Hoffnungen."

Der amtliche verordnete Optimismus und Hoffnungsglaube entbehrt jedoch weitgehend der Grundlage.

Und dafür braucht man nun keineswegs die Presse der Unter-grund-„Solidarität" heranzuziehen oder dem stiller gewordenen Murren der Bevölkerung zuzuhören.

Aus amtlichen Quellen nämlich läßt sich das rosige Bild der Propaganda relativ mühelos widerlegen.

• Mit Ausnahme von Bergbau und Stromerzeugung verzeichnete die polnische Wirtschaft auch im Februar und März einen beträchtlichen Produktionsrückgang. Die Auslastung beträgt je nach Branche nur zwischen 40 und 60 Prozent.

# In der Landwirtschaft fehlt es, laut Vizepremier Malinowski, nicht nur an rund 50.000 Traktoren, sondern oft an ganz einfachen Geräten wie Mistgabeln, Harken, Schaufeln und Rechen. Der Fehlbetrag an Düngemitteln wird auf 30.000 Tonnen geschätzt, Spritz-und Schädlingsbekämpfungsmittel sind so gut wie gar nicht vorhanden.

• Nach den Schätzungen des polnischen Landwirtschaftsministeriums werden in den ersten vier Monaten dieses Jahres 68.000 Tonnen Fleisch weniger von den Bauern angeboten werden als im gleichen Zeitabschnitt des Vorjahres. „Es wird daher nicht einfach sein", so der zuständige Minister Jerzy Wojtecki vor dem Parlament, ,4m laufenden Jahr die Fleischrationen auf dem bisherigen Stand zu sichern." (Das sind 2,5 Kilo pro Kopf und Monat).

600.000 Tonnen Getreide müßten die polnischen Bauern verkaufen und weitere zwei Millionen Tonnen aus dem Import wären notwendig, um die ungestörte Brotversorgung bis zur nächsten Ernte zu sichern. Derzeit liegt der Fehlbetrag bei 220.000 Tonnen Getreide, die die polnischen Bauern nicht zu den staatlichen Ankaufsstellen gebracht haben.

• In der Konsumgüterindustrie hat es einen Produktionszuwachs bei Waschmaschinen, Autobatterien und TV-Apparaten gegeben, bei Kühlschränken, Autos und vor allem Textilien ging die Produktion zurück. Vor allem bei Kinderkleidung und Schuhen herrscht ein Engpaß, sodaß man laut der Zeitung „Rzeczpospolita" an eine Rationierung wird denken müssen.

• Von den jährlich rund 450.000 benötigten neuen Wohnungen können laut der ZK-Kommission für wirtschaftliche Reformen höchstens 300.000 gebaut werden.

• Die Arbeitslosigkeit, derzeit bei offiziell 400.000, wird laut dem stellvertretenden Planungsminister Jerzy Gwiazdzinski sich möglicherweise verdoppeln. Wirtschaftsexperten, etwa bei der Zeitung „Polityka", halten auch 1,5 Millionen Arbeitslose (bei 12,5 Millionen Beschäftigten) für eine durchaus reale Möglichkeit.

• Offiziell wird auch eingeräumt, daß derzeit fast ein Drittel der gesamten polnischen Bevölkerung (36 Millionen) unterhalb des Existenzminimums lebt. Kinderreiche Familien, Rentner und Arbeitslose sind nicht einmal mehr imstande, sich die monatlich zustehende Minimalration an Fleisch und Wurst und die tägliche Milch zu kaufen. Auch das wird ganz offen zugegeben.

Nach den massiven Preiserhöhungen (bis zu 400 %) vom Februar sind die Polen, und zwar alle, tatsächlich ärmer als je zuvor. Sie wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. Selbst bei al-lerbescheidenstem Leben reicht das Geld für den Familienunterhalt nicht mehr aus.

Dies läßt sich am Beispiel der Familie Z. deutlich nachweisen: Der alleinverdienende Ehemann bringt immerhin, samt Familienzulage und der Teuerungskompensation, 13.392 Zloty monatlich nach Hause (das Durchschnittsgehalt liegt zwischen 7000 und 8000 Zloty).

Die Frau arbeitet nicht, die beiden Töchter sind neun und drei Jahre.

Für die Miete der Zweizimmer-Genossenschaftswohnung gehen monatlich 1387 Zloty weg. Strom, Gas, Radio- und TV-Gebühr, Autobuskarten und 100 Zloty Taschengeld für die ältere Tochter ergeben 2256 Zloty.

5655 Zloty, also knapp die Hälfte der Gesamteinnahmen dieser vierköpfigen Familie, gehen für rationierte Lebensmittel auf. Dabei ißt man sehr bescheiden: 75 Gramm Wurst oder Fleisch pro Person täglich, zwei Kilo Butter pro Monat. Milch, Brot, Erdäpfel, Eier, Käse, Fisch, Obst (ein Kilo pro Woche) und Gemüse (ein Kilo Zwiebeln, Karotten, Sauerkraut und Gurken pro Woche) verschlingen monatlich weitere 5345 Zloty.

Im Posten „Verschiedenes" hat die Familie Z. in Warschau noch für Streichhölzer, Toilettepapier, Zigaretten, Seife, Zeitungen usw. noch 738 Zloty ausgegeben.

Die Bilanz: Bei 13.392 Zloty Einnahmen gab es Ausgaben in der Höhe von 13.894 Zloty. Die fehlenden 500 Zloty hat man sich bei der Schwiegermutter geborgt.

Und nächsten Monat? Vielleicht kann man die Sparbücher angreifen ...

Aber wie soll das weitergehen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung