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Die Krise dreht sich im Kreise

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Die KP-Bezirkssekretärin

Halina Minkowska aus Danzig ist einigermaßen verzweifelt. Auftragsgemäß hält sie derzeit in Betrieben, Parteizellen und kleinen Unterorganisationen ihre Treffen mit den Werktätigen ab, um ihnen die „Beschlüsse des 13. Plenums des Zentralkomitees der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei betreffend ideologische Fragen“ nahezubringen. Aber niemand scheint richtig zuzuhören. Und nachher kreisen alle Fragen nicht um ideologische Probleme, sondern natürlich um die bevorstehenden Preiserhöhungen.

Nach den Vorschlägen der Regierung sollen die Preise für Geflügel, Schweinefleisch, Schinken, Reis und das bisher extrem billige Brot zwischen 10 und 70 Prozent angehoben werden.

Die streng kontrollierten Massenmedien, einschließlich Rundfunk und Fernsehen, betonen unaufhörlich, daß es sich nicht um definitive Prozentsätze handle, sondern bloß um „Pläne und Vor-schläge“, die öffentlich und „gesellschaftlich“ diskutiert werden sollen. Die Menschen werden aufgefordert, sich an dieser „Diskussion“ zu beteiligen. Sie soll bis Mitte Dezember andauern.

Aus dem Verlauf der bisherigen Diskussion läßt sich noch kein klares Bild gewinnen. Es gibt — auch im TV — kritische Stimmen von meist verschreckt wirkenden Menschen. Tenor der Aussagen: Die Preiserhöhungen würden eine empfindliche Einbuße des ohnehin schon geringen Lebensstandards bringen.

Es sei nicht einsichtig, daß die Preiserhöhungen eine Besserung der Versorgungslage herbeiführen könnten. Andere Bürger, die in Zeitungen, TV und Rundfunk Stellung nehmen, finden auch (angeblich) Verständnis für die geplanten Maßnahmen. Es sei notwendig, die staatlichen Subventionen bei Lebensmitteln (immerhin würden durch die „Preisreform“ zwischen 120 und 164 Milliarden Zloty eingespart) zu kürzen, um der kränkelnden Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen.

Der bisherige Verlauf der „gesellschaftlichen Diskussion“ suggeriert, als hätte die amtliche Preiskommission eine Flut von Anregungen und Vorschlägen zu prüfen; diese würden dann alle bei der tatsächlichen Festsetzung der Preiserhöhungen und der flankierenden sozialen Maßnahmen (Rentner sollen z. B. einen Teuerungsausgleich erhalten) berücksichtigt werden.

Der Eindruck scheint allerdings eben nur suggeriert zu sein, wie sich unschwer aus dem Verhalten der Bevölkerung ablesen läßt:

Gleichzeitig nämlich mit dem Beginn der „gesellschaftlichen Diskussion“ begannen die Polen, nach wie vor von grundsätzlichem Mißtrauen gegen das Regime erfüllt, mit Panikkäufen: Bei Butter, die wieder rationiert wurde, bei Waschmitteln und Seife, Zigaretten und Lebensmittelkonserven, ja sogar Salz.

Das bedeutet nichts anderes, als daß offenbar die Mehrheit der Bevölkerung der „Diskussion“ nicht traut, weitere Preiserhöhungen als die jetzt eingeplanten fürchtet und an eine politische Mitentscheidungsgewalt, wie sie die momentan laufende Kampagne vorzugaukeln scheint, nicht glaubt.

So vernünftig und begrüßenswert die Entscheidung der Warschauer Regierung ist, eine „Diskussion“ über wirtschaftspolitische Maßnahmen mit der „Basis“ zu führen, so ist sie doch sinnlos, wenn Vertrauen fehlt. Niemand in Polen glaubt, daß nun plötzlich „Demokratie“ ausbricht, aber jeder glaubt, daß das Ergebnis der Diskussion über die Preiserhöhungen vom Regime manipuliert werden wird und die ohnehin längst gefallenen Entscheidungen auch durchgesetzt werden.

Dieses fehlende Vertrauen der Polen in ihre Regierung ist nur allzu begründet. Hatte die Regierung nicht noch im Sommer erklärt, es gäbe — wörtlich — „Ströme von Milch“ und daher wäre keine neuerliche Rationierung der Butter notwendig? Und was geschah? Sie kam doch! Wo sind die Milchströme versickert?

Hatte die Regierung nicht erklärt, man werde die Inflation drastisch senken? Aber statt der geplanten 16 Prozent für 1983 gab es heuer mindestens eine 23pro- zentige Inflationsrate!

Die Beispiele ließen sich nahezu endlos vermehren.

Das ist die eine Seite.

Die andere ist, daß auch die Regierung in einer selbstgebastelten Falle sitzt. Einerseits ist sie aus rein ökonomischen Gründen zu Preiskorrekturen gezwungen. Andererseits operiert sie in einer — durch ihr sonstiges politisches Verhalten — selbstgewählten Isolierung.

Die macht es unmöglich, über die „wahre Stimmung“ in der Bevölkerung Aufschluß zu erhalten. Krasse Fehleinschätzungen — wie etwa bei der Butterrationierung — sind die unausweichliche Folge.

So dreht sich die polnische Krise im Kreise, schaukelt sich neu auf. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die neuen Preiserhöhungen — trotz der dämpfenden Wirkung, die die jetzt laufende Diskussion zweifelsohne auch haben wird — mit Jahresanfang 1984 neue soziale und politische Spannungen aus- lösen.

Das war in Volkspolen schon ziemlich häufig der Fall: 1970,1976 und 1980.

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