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Die Talsohle noch nicht erreicht

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Bulgarien hat ein weitgehendes Reformprogramm geschaffen. Bisher konnte es aber nicht ausreichend westliche Hilfe ins Land ziehen. Lawrence Eaglebur-ger, stellvertretender US-Außenminister, beschrieb kürzlich bei seinem Bulgarien-Besuch das Land als eine Insel der Stabilität auf dem Balkan. Hinsichtlich der Wirtschaft kämpft Bulgarien aber einen Überlebenskampf.

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Bulgarien hat ein weitgehendes Reformprogramm geschaffen. Bisher konnte es aber nicht ausreichend westliche Hilfe ins Land ziehen. Lawrence Eaglebur-ger, stellvertretender US-Außenminister, beschrieb kürzlich bei seinem Bulgarien-Besuch das Land als eine Insel der Stabilität auf dem Balkan. Hinsichtlich der Wirtschaft kämpft Bulgarien aber einen Überlebenskampf.

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„Die USA", erklärte Eagleburger in Sofia, „schätzen die Bemühungen Bulgariens um die Erhaltung der Stabilität und des Friedens in der Region hoch ein." Er fügte hinzu, daß Sofia die vollste Unterstützung der internationalen Finanzinstitutionen verdient.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) aber sah es anders und verschob im März dieses Jahres die zweite Kredittranche über 100 Millionen Dollar (die erste 1991 betrug 200 Millionen Dollar). Als Hauptgrund dafür wurde der Mißerfolg des Parlaments angegeben, das Privatisierungsgesetz bis dahin zu verabschieden. Dieses Gesetz wurde inzwischen angenommen, aber entscheidend für die zweite Kredittranche wird der Beginn der Privatisierung der kleinen Betriebe sein, der ansteht.

Der erste Reformschritt in Bulgarien war die Liberalisierung der Preise in diesem Februar. Die Inflation in diesem Monat betrug 480 Prozent, erwartet hatte man 288.

Die Preise der meisten Nahrungsmittel haben sich um das Fünffache erhöht, Milch- und Brotpreis sind sogar um das Zehnfache gestiegen. Wegen der Befriedigung der Nachfrage konnten einige Lebensmittelpreise wieder fallen. Die monatliche Inflation beträgt vier bis fünf Prozent, im Mai ist sie auf zwölf Prozent gestiegen. Für dieses Jahr erwartet man insgesamt nicht mehr als 70 Prozent im Vergleich mit 300 Prozent im vergangenen Jahr.

Momentan sind die Geschäfte in Bulgarien relativ voll mit Waren, aber die Preise sind für einen durchschnittlichen Haushalt zu hoch. Der größte Teil des Einkommens wird für Grund-bedürfnisse ausgegeben. Es wird geschätzt, daß die Gehälter dieses Jahr um durchschnittlich 57,6 Prozent gefallen sind.

Dabei beträgt das durchschnittliche Monatsgehalt 1.804 Leva (das sind etwa 900 Schilling). Die Pensionen sind viel niedriger (im Durchschnitt 500 Leva pro Monat), was Demonstrationen im Jänner hervorgerufen hatte.

Fast alle notwendigen Reformgesetze wurden schon verabschiedet. Das Gesetz über die Privatisierung sieht den Verkauf der 96 Prozent staatlichen Betriebe und von Staatseigentum an Privatleute, auch im Ausland, vor. Kleine und mittlere Betriebe werden versteigert, während Großbetriebe schrittweise in Aktiengesellschaften umgewandelt werden sollen.

Die Arbeiter der betroffenen Betriebe können 20 Prozent der Aktien zur Hälfte des Marktpreises kaufen. Für Ausländer gelten die Bestimmungen des verabschiedeten neuen Gesetzes über ausländische Investitionen in Bulgarien, das liberale Bestimmungen für ausländische Beteiligung enthält. Demnach können Ausländer nur Boden erwerben und wirtschaftliche Tätigkeit entwickeln, wenn sie an einem Joint venture mit einem bulgarischen Partner, der die Mehrheit des Unternehmens hält, beteiligt sind. Die Gewinne können in Devisen ausgeführt werden.

Dem war das Gesetz über die Restitution von Boden, Geschäften, Fabriken und Wohnungen an ihre früheren Besitzer vorausgegangen. Und nach dem Bodengesetz werden alle Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) bis November dieses Jahres aufgelöst und der Boden wird den rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben.

Geldgeber Österreich

Der Außenhandel ist zur Zeit voll liberalisiert, jede entsprechend registrierte Firma in Bulgarien ist zum Außenhandel berechtigt. Die früher allein zuständigen staatlichen Außenhandelsorganisationen, jetzt meist Aktiengesellschaften, sind dem freien Wettbewerb der zahlreichen privaten Firmen ausgesetzt.

Erfolgreich verlief die Einführung der inneren Konvertibilität der bulgarischen Leva. Der Wechselkurs wird als „floating rate" geführt und folgt einem Leitkurs, den die Nationalbank täglich festsetzt. Der eigentliche Kurs bildet sich dann als „Zwischenbank-rate" je nach Angebot und Nachfrage bei den bulgarischen Kommerzbanken.

Die bulgarische Regierung sucht Umschuldungsmöglichkeiten von 8,5 Milliarden-Dollar-Krediten, die staatlich nicht garantiert sind. Es wird vorgeschlagen, die Schulden in Anleihen und Beteiligungen an staatlichen Erholungsheimen an der Schwarzmeerküste umzutauschen. Das wäre auch eine gute Möglichkeit, nicht nur neue Technologien, sondern auch frisches Kapital ins Land strömen zu lassen. Bei der Suche nach potentiellen Partnern für die Umschul-dungsprojekte hat die Bank Austria AG bereits viel geleistet. Sonst bleiben österreichische Banken mit einer Summe von knapp elf Milliarden Schilling der drittgrößte Geldgeber Bulgariens nach Deutschland und Japan.

Die Wirtschaftsreform verläuft im Umfeld der komplizierten politischen Lage auf dem Balkan. So verliert Bulgarien zum Beispiel wegen der UNO-Sanktionen gegen Serbien und Montenegro etwa 55 bis 60 Millionen Dollar im Handel mit Rest-Jugoslawien.

Außerdem bestehen noch viele innere Probleme. Gegen die Wirtschaftsreform leisten die frühere kom-munistische Nomenklatura Widerstand - sie sitzt noch immer an den Schalthebeln in der Wirtschaft - und die Gewerkschaften. Um ihre schwierige Aufgabe ist die Regierung der Union der Demokratischen Kräfte nicht zu beneiden.

Bulgarien hat immer noch nicht die Talsohle der Krise erreicht. Die Produktion, die in den ersten drei Monaten 1992 um 40 Prozent zurückgegangen ist, wird weiter abnehmen. Der Lebensstandard sinkt täglich, die ohnehin hohe Arbeitslosenrate (13 Prozent) wird drastisch steigen, denn die Privatisierung der Industriebetriebe beginnt jetzt erst. In der Regierung ist man sich der Gefahr des Ausbruchs sozialer Unruhen wohl bewußt. Parlamentspräsident Stefan Savov ist jedoch davon überzeugt, daß die Reform - falls die Legislative die ersten zwölf Monate (bis November) übersteht) - in einem Jahr sichtbare Ergebnisse bringen wird.

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